Rehabilitation der Menschheit
Anno Domini 15 341 256 345 nach dem Urknall
Irgendwo im Universum. Ein Spiralnebel wie viele Millionen andere: eine Anhäufung von Milliarden und Abermilliarden Sternen. Am Rande dieses Nebels, in einem Seitenarm, ein unscheinbarer, gelblicher Stern, der von neun Planeten umrundet wird. Der dritte, einer der kleineren, sticht durch seinen blauen Farbton besonders hervor. Dieser Planet ist in der Tat etwas besonderes. Es hat sich dort in einer Jahr-Milliarde währenden Metamorphose aus den Kohlenstoff-Verbindungen der Elemente etwas herauskristallisiert, was deutlich vom Gestein zu unterscheiden ist: Das Leben. Es ist vielfältig, wie nichts Vergleichbares im Universum. Angefangen von einfachen Aminosäuren über Einzeller, Meeresbewohner und Echsen, bis hin zur dato höchsten Stufe, dem Säugetier.
Behaarte Gesellen beginnen von den Bäumen zu klettern und sich auf den großen Pranken ihrer Hinterpfoten aufrecht zu bewegen. Sie finden sich zusammen zu Horden und fangen an, Werkzeuge aus Steinen und Stöcken zu bauen, um sich in der rauhen, natürlichen Umgebung behaupten zu können.
Ein lauer Sommerabend. Zwei dieser Primaten stehen nach einem ereignisreichen Jagd-Abenteuer auf einem Hügel und beobachten den blutroten Saum einer untergehenden Sonne. Plötzlich deutet einer der beiden mit seinen haarigen Fingern an den Horizont und wendet sich mit grunzenden Lauten an seinen Kampf-Kollegen. Dieser sieht mit entgeisterter Mine in Richtung der weisenden Hände. Schließlich wandert sein Blick vollkommen ungläubig zu seinem Genossen zurück, denn nur mühsam beginnt er zu begreifen, daß sein Mitkämpfer neben ihm den Wunsch hat, diesen Horizont zu ergründen. Eine schier unglaubliche Regung! Ein Wesen dieses Planeten wagt es, über Dinge nachzudenken, die außerhalb des Bereiches liegen, den der natürliche Lebenserhaltungs-Instinkt vorschreibt!
Das Bewußtsein ist geboren. Und mit ihm das reell existierende Universum. Was vorher nur verschiedene Energieformen waren, wird plötzlich zu Licht, Farbe, Wärme und Schall. Die gesamte Materie dieses Raumes wird nun durchflutet von Mythen, Gedanken und dem Streben nach der Macht des Wissens. Viel weniger als ein Staubkorn in der Weite der Welten ist dieser kleine, blaue Planet. Und noch viel weniger ist das einzelne dort existierende Bewußtsein. Aber so unscheinbar und klein es auch erscheint, gehört es wahrscheinlich zu den bedeutendsten Entwicklungen in der Geschichte des gesamten Universums.
Der Homo Sapiens hat sich aus den vielfältigen Arten der Natur erhoben und beansprucht einen besonderen Platz dort. Er bezeichnet sich selbst als die Krone der Schöpfung und beginnt sich eine Welt nach seinen Vorstellungen zu schaffen. Die Natur, die ihn hervorgebracht hatte, macht er sich untertan. Seine größte, aber auch gefährlichste Waffe ist sein Gehirn. Ist er an Kraft, Schnelligkeit und Gewandtheit auch fast allen anderen Arten unterlegen, so gleicht er es zehnfach durch die Überlegenheit seines Geistes aus. Bald gibt es keine andere Lebensform mehr, die dieses Wesen in seine Schranken weisen kann. Ungehemmt kann es sich fortentwickeln und den kleinen, blauen Planeten bevölkern. Alle anderen, dort angesiedelten Arten werden rücksichtslos zurückgedrängt, damit sich die geistige Spitze der Entwicklung ausbreiten kann.
Die anfänglich primitiven Werkzeuge werden immer ausgefeilter. Der neue Primus des Planeten, den er Erde nennt, entdeckt die Naturgesetze und versteht sie für seine Zwecke zu gebrauchen. Aus Erzen werden metallische Werkzeuge, aus Mineralien stellt er Schießpulver her. Bäume werden zu Pergament verarbeitet, auf das er sein geistiges Gut niederschreiben kann.
Aber das genügt ihm nicht. Das Wesen Mensch hat schnell herausgefunden, daß man die Kräfte der Natur in Maschinen arbeiten lassen kann. Das technische Zeitalter bricht herein. Und mit ihm werden plötzlich alle bis dahin unwichtigen Rohstoffe, wie Öl, Gas, Kohle und sogar das vorher unnütze Uranerz gebraucht. Das Streben nach immer weiterführender Verbesserung seiner Lebensqualität lassen dieses Wesen blind seiner Umwelt gegenüber werden. In immer häufigeren Erfolgserlebnissen wird der Rausch nach unbesiegbarem Fortschritt gefeiert. Atomkraft, Computer und Gentechnologie prägen nun seinen Weg. Und er ist stolz darauf. Der Fortschritt beginnt sich in den Wahn hinein zu steigern, daß sich dem menschlichen Geiste keine natürliche Schranke mehr entgegen stellen könnte. Sein Planet wird ihm zu klein, er beginnt in den Weltraum zu streben. Und er verdrängt das Bewußtsein, daß dieser kleine, blaue Planet im universalen Geschehen eigentlich keine Bedeutung besitzt.
Aber der Geist dieser Gattungsart macht noch etwas möglich, was bis dahin in der Natur nicht zu finden war: Selbstkritik. Es beginnen sich nach und nach immer mehr unter den Milliarden denkenden Wesen zu regen, die warnend ihre Finger heben. Sie deuteten auf verschmutzte Flüsse, auf die Atmosphäre, die sich immer mehr mit Stickoxyden und Kohlendioxyd anreichert. Sie zeigen auf die Millionen Tonnen Müllberge und auf die Tierarten, die es nun nur noch in Geschichtsbüchern gibt. Sie weisen auf abgeholzte Wälder, auf verödete Landstriche und auf immer weiter in die Siedlungen hineinwandernde Wüsten. Kopfschüttelnd betrachteten sie die Dekadenz, die sich in der Industriegesellschaft aufgebaut hat. Und sie sagten:
Mensch, was hast du getan? Noch nie gab es in der Naturgeschichte vergleichbar Grausames und Rücksichtsloses wie dich! Wofür die Natur Milliarden Jahre Aufbau benötigte, machst du nun in wenigen hundert Jahren zunichte! Du schaffst dir Waffen, die es dir ermöglichen, diesen ehemals wunderschönen Planeten innerhalb von Stunden in Schutt und Asche zu legen. Du hast es geschafft, daß du keine natürlichen Feinde mehr hast, machst dich selbst aber zu deinem größten Feind. Dafür steckst du einen Großteil des erwirtschafteten Bruttosozial-Produktes in militärische Rüstung, mit dem Vorwand, den Boden verteidigen zu müssen, der doch eigentlich allen natürlichen Lebewesen gehört. Und du schließt dabei die Augen vor den Millionen verhungernden Kindern!
Resigniert stehen viele dieser Kritiker vor der neuen Welt dieser Gattungsart Mensch. Und sie fragen sich, was wohl falsch gelaufen sein mag an der Entwicklung dessen, was der humanoide Geist hervor gebracht hat.
In einem Zeitraum von nur hundert Jahren hat die menschliche Gesellschaft ihr Erscheinungsbild so gewaltig geändert wie nie zuvor. Sie wurde durch die technische Revolution innerhalb eines Herzschlages der Geschichte vom mythischen Mittelalter in ein Zeitalter von realem und kühlen Maschinendenken hinein geschleudert. Der Fortschrittsglaube ist durch diesen Sprung so enorm groß geworden, daß es scheint, als könne diese Entwicklung durch keine Naturmacht mehr aufgehalten werden.
Aber ist der Standpunkt, der Mensch würde sich dadurch immer weiter von der Natur entfernen, eigentlich berechtigt? Schließlich ist die menschliche Intelligenz doch ein Bestandteil von ihr - geschaffen aus einer Evolution, die scheinbar unvermeidlich war. Wenn der Mensch aber ein Bestandteil dieser Natur ist, dann sind es auch alle Dinge, die er mit Hilfe des von ihr gegebenen Geistes hervorbringt. Also ist jeder Computer, jede Atombombe und jede Mondrakete letztlich nichts anderes, als eine Entwicklung der Natur im natürlichen Evolutions-Prozeß. Bei allen Bewunderungen für die Geheimnisse, die Vielfalt und die Unerklärbarkeit von natürlichen Vorgängen hat sich die Natur in ihrer Entwicklungsgeschichte nie an die ethischen Standards des menschlichen Denkens gehalten. Das Grund-Prinzip der Evolution ist verblüffend einfach und besteht aus Abläufen von zufälligen Ereignissen, die scheinbar chaotischen Regeln folgen. Es sind dieselben Regeln, wie sie in der Welt des menschlichen Bewußtseins wieder zu finden sind: einzelne Individuen können als vernünftig und intelligent betrachtet werden. Doch je größer die Gemeinschaft der Bewußtseins-Formen wird, um so mehr nährt sich deren Dasein dem emotionslosen, natürlichen Kreis. Die Gemeinschaft der Menschheit ist in dem Prozeß, auf die Geschehnisse der Natur einzuwirken, nur ein Werkzeug der Natur selbst.
Wie wird die Zukunft der intelligenten Lebensform auf diesem blauen Planeten aussehen? Ist das 'Experiment Mensch' nur eine der vielen, fehlgelaufenen Entwicklungen der universalen Naturgeschichte, oder ist eine klassenlose, demokratische und dauerhaft friedliche Gesellschaft in einer weltumfassenden, umweltbewußten Regierung denkbar? Es ist schwer vorzustellen, denn dazu müßten die größten Schranken des Bewußtseins gebrochen werden: die Intoleranz anderen Denkensformen gegenüber. Aber der Umbruch, in dem sich die Erde am Ende des 2. Jahrtausends nach Rechnung des gregorianischen Kalenders befindet, ist in vollem Gange. Ob dieser Umbruch der menschlichen Gesellschaft den Untergang bringen wird, oder ob in Zukunft eine friedliche Koexistenz zwischen Natur und Technik möglich ist, bleibt nicht alleine eine Frage der Vernunft. Sicherlich hängt es auch von den Entscheidungen der maßgebenden Regierungen und einem Umdenkungsprozeß in der technisierten Welt ab. Aber eine wirklich ideale Welt nach menschlichen Maßstäben könnte es ohnehin nur geben, wenn die Menschen alle ihre Emotionen ablegen würden. Ohne Emotionen gäbe es aber auch kein Bewußtsein und der ideale Lebensbereich wäre gar nicht mehr definierbar. Es ist ein Paradoxum, aber die Probleme der menschlichen Gesellschaft entstehen erst durch das Bewußtwerden derselben.
Diese Erkenntnis ist in der Philosophie, die sich die Menschen im Laufe ihrer Entwicklung aufgebaut haben, wiederzufinden. Die Phantasie des Bewußtseins ist dafür verantwortlich, daß auch der Mensch der Zukunft das tun wird, was machbar erscheint. Mögen da auch noch so viele Warner ihre Finger heben. Wenn er es nicht heute tut, wird er es morgen tun - vorausgesetzt, es gibt noch ein Morgen für ihn. Das Streben dazu steckt in seinem tiefen Wesen drin. Die Frage, ob es richtig ist, was er tut, würde sich nur in Beantwortung der Frage nach dem Sinn des natürlichen Daseins erklären. Für die Natur gibt es Begriffe wie Richtig oder Falsch, Gut oder Böse nicht. Für sie gibt es nur Ereignisse die aus dem Zusammenspiel zwischen Energie und Materie resultieren.
Niemand weiß, auf welcher Gratwanderung des Zufalls das Leben entstanden ist. Aber vieles spricht dafür, daß die Humanoiden auf dem Planeten Erde nur repräsentativ für viele Millionen andere Bewußtseins-Formen im Kosmos stehen. Welchen Entwicklungs-Weg exterritoriale Intelligenzen auch gegangen sein mögen, oder noch gehen werden - das Ziel wird immer das gleiche sein: die Veränderung der sie umgebenden Lebensbereiche. Die Probleme in der Revolution des Denkens werden deshalb mit großer Sicherheit auch an anderen Stellen des Universums ähnlich gelagert sein wie auf dieser kleinen, blauen Kugel.
Es scheint, als müsse die Diskrepanz zwischen logischer Intelligenz und emotionellem Denken - beides untrennbar miteinander verbunden und hervorgegangen aus dem Chaos-System der Natur - zwangsläufig dazu führen.
Uwe Reinhold 26.7.1995