Die emergente Entwicklung der Welt durch Selbstorganisation

Als Physikstudent war ich häufig enttäuscht darüber, wie wenig man auf Basis der physikalischen Gesetze und Formeln exakt berechnen kann. Später habe ich dann gelernt, dass die Formeln in der Physik ganz allgemein nur in den einfachsten Fällen analytisch lösbar sind, und wenn man das Modell für eine Rechnung ganz stark idealisiert. In der Newtonschen Mechanik beispielsweise gibt es Lösungen der Bewegungsgleichungen nur für zwei Körper (und in speziellen Fällen für drei Körper), und auch nur dann, wenn man die Reibung usw. vernachlässigt. Vor einigen Jahren habe ich aus dem Buch von Robert B. Laughlin Abschied von der Weltformel entnommen, dass exakte Lösungen in der Physik generell eine Seltenheit sind. Auch Ilja Prigogine schreibt in seinem bekannten Werk Vom Sein zum Werden: "Wenn es in der Physik und Chemie irgendwo Einfachheit gibt, dann ... nur in den idealisierten makroskopischen Darstellungen. ... Wenn immer wir von solchen Modellen ins Große oder Kleine gehen, hört diese Einfachheit auf; ..." Hinzu kommt, dass unsere Welt sich niemals in einem Zustand des statischen Gleichgewichts befindet, wie es manchmal den Anschein hat, sondern immer in einer dynamischen Entwicklung. Diese verläuft mal langsamer und mal schneller und wird vom dynamischen Gleichgewicht zwischen Kräften oder anderen Wechselwirkungen beherrscht. Sie findet nicht nur in unserer idealisierten makroskopischen Umwelt statt, sondern auch in der Welt der Atome, in der der Evolution, bei den geistigen Prozessen im Gehirn usw. Die emergente Entwicklung der Welt hat kurz nach dem hypothetischen Urknall mit der spontanen Bildung der fundamentalen Teilchen und Kräfte begonnen und geht seither ständig weiter.

Beispiel für einen emergenten Prozess

Das idealisierte Modell der Bildung von Wassermolekülen H2O aus Wasserstoff- und Sauerstoffmolekülen H2 und O2 wird durch die bekannte Formel der sog. Knallgas-Reaktion beschrieben:

2 H2 + O2 2 H2O

Da diese Reaktion exotherm ist, sollte sie von selbst beginnen und ablaufen. Tatsächlich ist der Ablauf der Reaktion aber sehr viel komplexer, als es die Gleichung suggeriert: Es geht schon damit los, dass sie nicht von selbst beginnt, weil für den Start zunächst eine Aktivierungsenergie überwunden werden muss. Dafür braucht es eine Starthilfe wie eine Flamme oder einen Funken. Hat die Reaktion aber einmal begonnen, verläuft sie explosionsartig als eine sich stark verzweigende Kettenreaktion, wobei neben H2- und O2-Molekülen auch H- und O-Atome sowie OH-Gruppen beteiligt sind. Auch mit einem Platindraht kann man die Knallgas-Reaktion starten, weil Platin molekulares H2 absorbiert und dabei teilweise in atomares H aufspaltet. Die H-Atome zünden dann die Kettenreaktion. Bei chemischen Reaktionen sind immer sehr viele Atome oder Moleküle beteiligt, ca. 6 ⋅ 1023 pro Mol (mit "Mol" bezeichnet man das Molekulargewicht in Gramm ausgedrückt). Deswegen ist der Ablauf im Detail sehr viel komplizierter, als es nach den Reaktionsgleichungen erscheint.


Konzept der Emergenz

Das grundsätzliche Konzept der Selbstorganisation kann man folgendermaßen beschreiben: Mehrere, viele oder sehr viele elementare Bausteine (Elemente) verbinden sich auf der Basis ihrer Wechselwirkungen, die meist nur zwischen den nächsten Nachbarn wirken, spontan zu Systemen mit neuen Strukturen und Eigenschaften. Aus einfachen Elementen mit einfachen Wechselwirkungen untereinander entstehen Systeme mit sehr komplexen kollektiven Strukturen und Eigenschaften oder Fähigkeiten, die aus denen der Elemente nicht erklärt oder vorhersagt werden können. Frei nach Philipp W. Anderson: "Ein einzelnes Gold-Atom ist nicht gelb und glänzend, eine einzelne Zelle ist kein Tiger". Das Ganze ist hier sehr viel mehr als die Summe seiner Teile. Die Selbstorganisation ist in erster Linie ein Prozess in der Zeit, nach Ilya Prigogine ein "Werden". Obwohl die Wechselwirkungen meist nur zwischen den nächsten Nachbarn wirken, ergibt sich bei der Selbstorganisation oft eine Fernordnung, die das ganze System erfasst. Diese ist verbunden mit einem Symmetriebruch, einer verringerten Symmetrie des Systems.

Am Beispiel der Knallgasreaktion kann man schon einige wichtige Aspekte der Emergenz erkennen: Eine große Menge von Wasserstoff- und Sauerstoffmolekülen (die "Elemente") verbinden sich spontan zu einer Menge von Wassermolekülen (dem "System"). Die Wechselwirkung zwischen den Elementen sind die chemischen Bindungen. Die Wassermoleküle haben völlig andere Eigenschaften wie die Wasserstoff- und Sauerstoffmoleküle. Da die Reaktion wegen der Aktivierungsenergie nicht von selbst startet, befindet sich das Gemisch der Elemente anfangs in einem instabilen "kritischen Zustand". Ein Funke oder ein einzelnes H-Atom wirkt als "Keim", der die Reaktion startet, die danach als sehr komplexe Kettenreaktion von selbst weiter abläuft. Die Knallgas-Reaktion ist auch mit einem "Phasenübergang" verbunden, denn das Volumen der Gase ist am Ende der Reaktion und nach der Abkühlung auf die Ausgangstemperatur um etwa ein Drittel kleiner als zu Beginn. Der Phasenübergang wird aber in diesem Fall durch die explosionsartige Kettenreaktion maskiert.


Vielfalt der emergenten Prozesse

Die Vielfalt der emergenten Prozesse in der unbelebten und der belebten Natur ist immens. Entsprechend groß ist die Vielfalt der unterschiedlichen Bezeichnungen dafür in den unterschiedlichen wissenschaftlichen Fachgebieten: Emergenz, Selbstorganisation, Komplexitätstheorie, Synergetik, Holismus, Evolution, Symbiose, Autopoiesis, Unsichtbare Hand des Marktes, inklusive Sozialordnung usw. Die heute oft weit voneinander entfernten Spezialgebiete der wissenschaftlichen Forschung können unter dem Aspekt der Selbstorganisation zu einem übersichtlichen Gesamtbild zusammengefügt werden. Die Emergenz schlägt als durchgängiges Prinzip beispielsweise eine Brücke zwischen der unbelebten und der belebten Natur, sie verbindet die materielle Welt mit der Welt des Geistes!

Bezogen auf den Energiehaushalt können emergente Prozesse im thermischen Gleichgewicht verlaufen, d.h. ohne Energieaustausch mit der Umgebung, oder unter Abgabe von Energie (exotherm), oder unter Verbrauch von Energie (endotherm). Beispiele für die Selbstorganisation im thermischen Gleichgewicht sind die Entstehung der magnetischen Ordnung und die Supraleitung. Beispiele für die Entstehung von mehr Ordnung ohne die Zufuhr von Energie sind die Bildung der leichten Atomkerne bis zum Eisen, die Entstehung der Atome aus Kernen und Elektronen, die Entwicklung der Sterne, die Wechsel der Aggregatzustände (kondensieren, erstarren) und exotherme chemische Reaktionen.

Beispiele für die Entstehung von mehr Komplexität und Ordnung, die Energie von außen benötigt, sind die Bildung der schweren Atomkerne jenseits vom Eisen, Konvektionsmuster in erhitzten Flüssigkeiten, der Laser, endotherme chemische Reaktionen, und vor allem die Entstehung und Entwicklung des Lebens und die geistigen Prozesse im Gehirn. Diese Prozesse sind nur weit entfernt vom thermischen Gleichgewicht möglich. Ein einfaches Beispiel eines solchen Prozesses ist das Verhalten von Ameisen bei der Suche nach Futter.


Emergenz bei den Lebewesen

Das dynamische Verhalten einer großen Zahl von Ameisen bei der Futtersuche ist geradezu ein Modellsystem für wichtige Eigenschaften und Fähigkeiten von spontan selbstorganisierten Systemen. Die einzelne Ameise ist dabei als Element genetisch gesteuert und hat sehr einfache Wechselwirkungen mit anderen Ameisen, denn kein Forscher konnte bisher einer einzelnen Ameise irgend etwas beibringen. Aber eine große Gruppe von Tausenden oder Millionen von Ameisen kann eine Organisation mit sehr eindrucksvollen Leistungen sein. Betrachten wir die Futtersuche einer Gruppe von Ameisen: Ameisen laufen dabei ständig ungeordnet in ihrem Revier hin und her. Wenn eine Ameise Futter gefunden hat, markiert sie ihre Spur mit Pheromonen. Andere Ameisen folgen dieser Spur und verstärken dadurch die Markierung. Je ergiebiger die Futterquelle ist, und je kürzer der Weg dorthin, umso stärker wird die Spur markiert, und um so mehr Ameisen folgen ihr.

Aus Sicht der spontanen Selbstorganisation erkennen wir an diesem Beispiel folgendes: Die Suche nach Futter erfolgt "fern vom thermodynamischen Gleichgewicht", denn die Ameisen laufen unter Verbrauch von Energie herum, anstatt ohne Energieverbrauch abzuwarten (und vielleicht zu verhungern). Die Suche nach Futter verläuft am Anfang "chaotisch", denn die Bewegungen der Ameisen sind ungeordnet und es ist nicht genau vorhersagbar, welche Ameise einen Weg zum Futter etabliert. Das gefundene Futter führt zu Ordnung und Struktur, nämlich der Konzentration vieler Ameisen auf den besten Weg zum Futter. Die chaotische Suche ist "innovativ", denn die Erfolgswahrscheinlichkeit ist viel größer als beim bewegungslosen Abwarten. Die Bewegungsmuster der Ameisen bei der Suche sind symmetrisch in alle Richtungen, erst durch die Konzentration auf den Weg zu einer Futterstelle erfolgt ein "Symmetriebruch". Den "Keim" zur Entstehung dieser Ordnung bildet die Ameise, die das Futter gefunden und den erfolgreichen Weg markiert hat.

Das Verhalten der Ameisen hat übrigens aus Sicht der Emergenz eine bestimmte Ähnlichkeit mit der Funktion des Gehirns: Auch das Gehirn ist im Ruhezustand nicht in Ruhe, sondern in einem chaotischen Muster von Aktivitäten der Nervenzellen, fern vom thermischen Gleichgewicht. Das ist einer der Erfolgsfaktoren für seine Leistungsfähigkeit.

Ein weiteres einfaches Beispiel kollektiven emergenten Verhaltens kann man oft bei Sportveranstaltungen beobachten: La Ola, die Welle. In einem möglichst voll besetzten Stadion (dem System) beginnt ein Block von ca. 30 Zuschauern (der Keim) die La Ola Welle, indem diese gleichzeitig aufstehen und die Arme hochreißen. Nach einem oder mehreren Versuchen (Hinweis auf kritischen Zustand) entsteht eine nach rechts umlaufende Welle, wenn jeder Zuschauer sich an den Zuschauern direkt links und vor ihm orientiert, ebenfalls aufsteht und die Arme hochreißt (kollektiver, strukturierter Ablauf, verbunden mit Symmetriebruch).


Emergenz in der menschlichen Gesellschaft

Die Kraft der Selbstorganisation und der Erfolg der emergenten Systeme kommt aus der großen Anzahl und Vielfalt der Elemente, die symbiotisch zusammenwirken. Auch in der menschlichen Gesellschaft steckt das Potential zur Weiterentwicklung und zur schöpferischen Anpassung an größere Änderungen in der pluralistischen Beteiligung möglichst vieler kompetenter und kooperativer Bürger in einem "inklusiv" (symbiotisch) organisierten Sozialsystem.

Die seit 200 Jahren weit verbreitete Meinung vom Kampf ums Dasein sowie die von der Aggression und des Egoismus als dem überwiegenden Erbe der Menschheit hält einer naturwissenschaftlichen Analyse nicht stand. Man muss sie vorwiegend als bequeme Rechtfertigung der Reichen und Mächtigen in unserer Welt sehen. Die Evolution hat nachweislich nicht auf der Basis des blinden Zufalls von Mutationen und der gnadenlosen Selektion beim Kampf ums Dasein stattgefunden. Sie ist sehr viel stärker durch kooperative Prozesse der Selbstorganisation wie Symbiosen, Ko-Evolutionen und soziale Kooperationen bestimmt worden. Die Empathie und das eusoziale Verhalten haben dabei eine sehr große Rolle gespielt. Es ist höchste Zeit, diese Erkenntnis zum Allgemeingut zu machen und die ethischen und moralischen Regeln der menschlichen Gesellschaft danach neu auszurichten. Der Erfolgsfaktor der Evolution einschließlich der sozialen Entwicklung des Menschen ist nicht der Kampf ums Dasein, sondern die symbiotische Zusammenarbeit. Er zeigt uns die Richtung auf für die Weiterentwicklung von Ethik und Moral in der menschlichen Gesellschaft.

In der der westlichen Welt und in vielen anderen Ländern hat in den letzten Jahrhunderten das Wissen der Menschen über die Natur und ihre Gesetze erheblich zugenommen, und als Folge davon auch die Möglichkeiten der Technik, der Medizin, der inklusiven Sozialordnungen sowie der allgemeine Wohlstand. Aber als Folge auch die Fähigkeit, Ideologien und Pseudowissenschaften kritisch zu betrachten. Dadurch haben die extraktiven Eliten, die auf religiösem Glauben, der angeblich von Gott gewollten absoluten Herrschaft oder dem oberflächlichem Glauben an eine "Herrenrasse" oder an die "Diktatur des Proletariats" aufgebaut waren, stark an Macht und Einfluss verloren. Wenn es gelingt, Ethik und die Moral aus den religiösen Fesseln zu befreien, sollte auch für diese eine erhebliche Weiterentwicklung möglich sein, und in der Folge eine ethische und moralische Neuausrichtung der Gesellschaft. Dafür muss aber das Wissen und die Kritikfähigkeit der meisten Menschen noch erheblich verbessert werden, denn ... "Wissen ist Macht", es fördert die Kraft zum kritischen Denken.

Diese Entwicklung wird durch die großen Fortschritte der Informationstechnik gefördert, die die Zugänglichkeit des Wissens, die Möglichkeiten der Kommunikation und die von informellen Organisationen erheblich verbessert. Ich bin überzeugt, dass wir den Rückstand von Ethik und Moral im Vergleich zu Naturwissenschaft und Technik auf der Basis der weiteren Verbreitung der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse, die auch die Geisteswissenschaften beeinflussen werden, wieder aufholen können. Es ist höchste Zeit dafür!


Weitere Information sowie Literaturangaben finden Sie in dem Buch von Günter Dedié
Die Kraft der Naturgesetze, Verlag tredition 2014.

"...ein sehr schöner, sehr verständlicher Text. Er entwickelt sich von Kapitel zu Kapitel bestens und geradezu spannend!"
Prof. Dr. Josef H. Reichholf, Autor zahlreicher Bücher über Natur, Ökologie, Evolution usw., Siegmund-Freud-Preisträger der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung 2007.