Hallo zusammen,
ich habe mir schon vorgestern Abend den YouTube-Film von 30’ bis 70’ angeschaut und gestern noch ein zweites Mal.
Der mittlere Teil des Filmes lässt sich wohlwollender beurteilen; zum einen hat die Polemik abgenommen und statt pauschaler Szenarien werden nun konkrete Beispiele und Vorfälle vorgestellt. Auch wenn sich die Autoren nicht die Mühe gemacht haben, ihren YouTube-Film nochmals von Fachleuten gegenprüfen zu lassen, so ist der mittlere Teil der Dokumentation durchaus lesenswert.
Schauen wir uns die genannten Beispiele mal näher an.
Da wird über die Fälschung von Versuchsprotokollen gesprochen. Natürlich ist das möglich, und das wird auch niemand bezweifeln. Allerdings werden Forschungsergebnisse erst dann anerkannt, wenn sie
unabhängig bestätigt wurden. Was manchmal übrigens gar nicht möglich ist, beispielsweise ein Resultat, das nur am CERN gemessen werden kann, weil es weltweit keine andere solche leistungsstarke Maschine gibt. Das ist aber auch nichts Neues – so hatte man beispielsweise ein solches Problem schon vor fast 250 Jahren, als Wilhelm Herschel 6 Uranusmonde entdeckt zu haben glaubte, von denen vier nur sehr schwer zu beobachten waren und unabhängige Beobachtungen erst 60 Jahre später mit einer neuen Klasse Teleskope möglich waren, aufgrund derer nur die beiden erstentdeckten Uranusmonde (Titania und Oberon) bestätigt und die vier anderen wieder verworfen werden mussten. Dennoch wäre es absurd, Wilhelm Herschel einen Betrug unterstellen zu wollen und er hat seine Beobachtungen auch sorgfältig dokumentiert.
Als nächstes wird - zurecht- der Fall von Professor Alvan Feinstein genannt, und es ist natürlich davon auszugehen, dass so mancher Forscher den Verlockungen des Geldes nicht widerstehen kann. Allerdings werden solche Fälle typischerweise nach einiger Zeit aufgedeckt, so dass die initiierende Industrie neben dem Leisten von Schadensersatz, von Bußen auch einen nicht unerheblichen Reputationsverlust erleidet, so dass sich die Frage stellt, ob sich die "gewonnene" Zeit, während der man länger ohne zusätzliche Massnahmen produzieren darf, unter dem Strich wirklich lohnt.
Kommen wir als nächstes zu den Ausführungen zum Beispiel des Bisphenol A: es ist sehr wichtig, dass diese Situation an- und besprochen wird.
Gehen wir kurz durch:
ab 47’14" ff: wird das Ergebnis vorgestellt: "die Schädigung des Fortpflanzungsapparats zeigte sich noch bei einer 25000 mal geringeren Dosis als der, die bis dato als unbedenklich galt." Das ist zweifelsohne ein unerwartetes Resultat, aber sicherlich nicht der erste wissenschaftliche Irrtum, auf den man dann eben geeignet reagieren muss. Leider unterläuft den YouTube-Auroren hier ein Irrtum: ab 47’35" hören wir: "weil es bedeutete, dass manche Substanzen in unendlich kleinen Mengen mehr Schaden anrichten können als in grossen Mengen." Das dürfte unzutreffend sein, der der Sache auch nicht dienlich ist. Denn hier wird - wohl unbeabsichtigt - eine Assoziation zur Homöopathie und ihren absurden Verdünnungsverfahren zur selektiven Steigerung erwünschter Wirkungen hergestellt, die seriöser Aufklärung nicht dienlich ist.
Denn etwas ganz anderes ist der Punkt: ab 51’36" ff hören wir die These der Industrie: "niedrige Dosen können nicht gefährlich sein." Der Punkt ist also nicht der, dass niedrige Dosen gefährlicher als hohe Dosen seien, sondern dass schon niedrige Dosen völlig unerwartet gefährlich sind, mit der Konsequenz, dass die vorhandenen Grenzwerte viel zu hoch liegen.
Machen wir weiter:
ab 53’32": "93% der öffentlichen Studien bestätigen die schädliche Wirkung von geringen Dosen von Bisphenol A. Von denen, die die Industrie finanziert hat, keine einzige."
Hier haben wir also ein ganz konkretes Kriterium. Gewiss, die Anzahl Studien kann nur ein Indikator sein, andererseits verlangt ein Peer Review für die Veröffentlichung in einem anerkannten Fachjournal, dass ein
neues Resultat kommuniziert wird, d.h. die Industrie kann nicht einfach mal 99% der Studien finanzieren und dann die "demokratische Mehrheit" über die Studien erhalten, weil diese Arbeiten eben nichts Neues kommunizieren und deswegen nicht in anerkannten Fachjournalen unterkommen.
Machen wir weiter:
ab 54’30" ff: "Die richtige Ratte und schon ist Bisphenol A völlig ungefährlich. Was für ein mieser Trick."
Nein, das ist
kein mieser Trick – es ist nicht verboten, die Anfangsbedingungen einer Studie geeignet zu wählen. Und wenn dann das gewünschte Ergebnis herauskommt, so ist ebenfalls alles in Ordnung. Man muss ein solches Resultat lediglich in den richtigen Kontext einordnen. Im vorliegenden Fall braucht man also nur ein anderes Versuchstier auszuwählen und schon hat man ein anderes Ergebnis, dann untersucht man noch ein anderes Versuchstier, dann noch ein drittes und spätestens dann stellt sich heraus, dass die Industriestudie zwar nicht falsch, aber eben nur einen kleinen Spezialfall darstellt und entsprechend von Unbedenklichkeit keine Rede sein kann. - Wobei ich nicht beurteilen kann, ob solche Experimente mit anderen Versuchstieren wirklich durchgeführt wurden; zumindest in der Wikipedia finde ich kaum etwas über diese allgemeine Gefährlichkeit von Bisphenol A, und solange solche zusätzlichen Studien nicht durchgeführt werden wird wohl betreffend geeigneten Schutzmassnahmen nicht allzuviel passieren.
Was wir übrigens in 54’40" ff sehen ist natürlich die völlig falsche Reaktion: "Ihnen ist klar, dass wir wissen, dass sie korrupt sind. Und dass wir sie dafür verachten."
Solange die Wissenschaft sie nur verachtet passiert nichts. Nein: da muss eine Publikation her, und die
kommt locker in einem renommierten Fachjournal unter.
Einmal mehr ist die Politik gefragt, ob sie Zulassungen auf Teil-Zulassungen beschränken oder Moratorien verhängen will. Letztlich stellt sich die Frage, ab welcher Indizienlage oder ab welchem Risiko Massnahmen ergriffen werden müssen, und wenn da keine Einigung erzielt werden kann, dann wird eben der konservativere Wert genommen. Das hätte auch den Vorteil, dass Verharmlosungs-Strategien seitens der Industrie ins Leere laufen würden. Selbstverständlich wird man Geldmittel zur Seite legen müssen, falls sich de Vorwurf als haltlos erweisen und die Industrie berechtigte Schadensersatzforderungen platzieren sollte. Ebenso wie die Industrie Geldmittel zur Seite legen muss, wenn ihr Betrug nachgewiesen wird und sie deswegen Schadensersatzforderungen leisten muss.
Danach wird der "Heidelberger Aufruf" angesprochen und das ist tatsächlich interessant; keineswegs wegen der Urheberschaft, denn es geht nicht um Personen, sondern um Inhalte, auch wenn das Wissen um die Urheberschaft natürlich Einblicke in die Motivation der Erstellung der Inhalte geben kann. Dennoch sind das Problem nicht die, die den "Heidelberger Aufruf" erstellt haben - in einem freien Land ist so etwas erlaubt und muss so etwas auch erlaubt sein, sondern es geht um diejenigen, die das unterschrieben haben und die sich nun als Opfer inszenieren. Zahlreiche dieser Unterschriften mögen ja aus Gutgläubigkeit oder Naivität erfolgt sein, nur: wenn ich etwas unterschreibe, so übernehme ich damit eine Verantwortung, denn eine Unterschrift ist nach wie vor so etwas wie ein Vertrag.
Was ich in diesem Zusammenhang allerdings gar nicht verstehe: 1992 gab es einen anderen wissenschaftlichen Appell, die
World Scientists’ Warning to Humanity, der ebenfalls von führenden Wissenschaftlern unterzeichnet wurde - einige Namen kenne sogar ich noch, und da werden keine Vorwürfe an irgendwelche "weltfremden" oder gar "terroristischen" Umweltaktivisten erhoben. Dieser Appell wurde von 1700 Wissenschaftlern, unter ihnen 104 Nobelpreisträger, unterschrieben; der Heidelberger Appell bringt es da gemäss des
Spiegel-Artikels nur auf gut 400 Forscher, von denen 62 Träger eines Nobelpreises sind.
Warum die World Scientists’ Warning to Humanity in der Arte Dokumentation mit keinem Wort erwähnt wird entzieht sich meiner Kenntnis.
Soviel also mal zum mittleren Teil der Arte Dokumentation.
Freundliche Grüsse, Ralf