tomS hat geschrieben:seeker hat geschrieben:Komplexe Systeme brauchen notwendig -um überhaupt als komplex verstanden werden zu können- ein Grundrauschen, etwas Zufälliges, auf dem sie sozusagen neue Ordnung aufbauen können. Wäre die Welt komplett, also auch auf jeder Ebene linear-kausal (und die Grundformulierung der Naturgesetze haben diese Natur), dann gäbe es so etwas nicht.
Das ist eine Vermutung deinerseits, und sie ist wahrscheinlich falsch.
Abwarten.
Dannn fangen wir zunächst bei etwas anderem an, das wesentlich ist, über das wir sicher Einigkeit haben werden und das wir längst hätten betrachten sollen: Die Entropie!
Wir können festhalten, dass natürliche komplexe Systeme immer Prozesse sind und vom Entropiedurchfluss leben:
niederentropischer Input -> komplexes System -> hochentropischer Output
Aus diesem Durchfluss heraus zweigen sie sich sozusagen Ordnung ab, um ihren eigenen Ordnungszustand zu regulieren.
Sie tun das aber nicht in der Weise, dass sie eine höchstmögliche Ordnung anstreben, sie werden nicht zu Kristallen oder dergleichen.
Stattdessen regulieren sie sich selbsttätig an den Rand zwischen Ordnung und Rauschen (Chaos), also gezielt an den Rand zum instabilen Bereich, wodurch ihre Sensitivität herrührt und noch viele weitere essentielle Eigenschaften. Gerade auf diesem instabilen, verrauschten Bereich, der zumindest für das System selbst nicht von einem echten zufälligen Rauschen unterscheidbar ist, bauen sie ihre innere Ordnung auf: Aus Chaos wird Ordnung, die Entropie nimmt ab, aber nicht zu sehr ab.
Soweit einverstanden?
tomS hat geschrieben: ↑11. Jan 2019, 08:08
In der klassischen Mechanik resultiert das Verhalten komplexer Systeme aus Nichtlinearitäten / Rückkopplungen und / oder Zufall.
In der Quantenmechanik existiert dies alles - ohne den Messprozess - sicher nicht. Trotzdem folgt die Dynamik klassischer Systeme
als Näherung aus quantenmechanischen Systemen, die zunächst linear und deterministisch sind. Der mathematische Formalismus ist verwickelt, jedoch gut verstanden. Fakt ist jedenfalls, dass ein auf fundamentaler Ebene lineares System auf höherer Ebene nichtlinearen Gesetzen zu folgen scheint.
Aha, als Näherung.
Und wie kann man dann das hier sicher sagen (?):
tomS hat geschrieben: ↑11. Jan 2019, 08:08
Dabei kommen diese nicht neu hinzu, sondern können aus den zugrundeliegenden linearen Gesetzen abgeleitet werden.
Woher weiß man, dass hier eine Näherung ausreichend ist? Immerhin haben wir hier sensitive Systeme vorliegen.
tomS hat geschrieben: ↑11. Jan 2019, 08:08
seeker hat geschrieben:An der Stelle würde ich dann behaupen, dass es hier zu abstrus wird und wir einsehen müssen, dass das Konzept "Von-Neumann-Maschine" hier nichts mehr taugt: Wir lernen daraus nichts, außer, dass es so nicht geht.
Das ist nicht das, worauf ich hinauswollte, und daher ist die Schlussfolgerung explizit falsch.
Du fokussierst zumeist auf praktische Aspekte. Das ist OK, aber du darfst daraus keine prinzipiellen Schlussfolgerungen ableiten.
Im Falle der Algorithmen geht es nicht um die praktische Implementierung sondern um die theoretische Klassifizierung. Deine praktischen Aspekte kommen erst bei der Umsetzung und damit einer Näherung ins Spiel, während die Klassifizierung natürlich am idealisierten System vorgenommen wird.
Du hast Recht, dass ich anders denke. Das liegt in der Natur der Sache: Ich habe es bei meiner Arbeit mit praktischen Dingen zu tun: vornehmlich Prozessentwicklung. Gerade darin liegt das schöne an so einem Forum: Man kann mit Leuten reden, die anders 'trainiert' sind.
Aber du hast glaube ich Unrecht, mit dem was du eigentlich meinst. Ich denke, es liegt im Kern eher daran, dass ich Theorien oder theoretischen Überlegungen mehr misstraue als du. Das kommt daher, weil ich erfahrungsgemäß weiß, dass all die theoretischen Modelle und Berechnungen, die meine Prozesse abbilden sollen, zwar sehr hilfreich sind, dass sie aber auch nie ganz passen, dass man ihnen nie ganz trauen darf, denn ansonsten kommt man nicht zum Ziel.
tomS hat geschrieben: ↑11. Jan 2019, 08:08
Das Verhalten des Wetters weist auch ohne Näherung bestimmte intrinsische Eigenschaften der Nichtlinearität auf, die nicht durch eine künstliche Näherung entstehen.
Das ist ganz sicher wahr. Das heißt aber noch lange nicht, dass das für alle Eigenschaften gilt.
tomS hat geschrieben: ↑11. Jan 2019, 08:08
Das ist ein wichtiger Punkt, und das ist sicher einer der Gründe für unser fortführendes Missverstehen!
Es gibt hier zwei Arten der Emergenz:
1) Die Emergenz von realen Mustern, Verhalten und Prozessen aus fundamentalen Entitäten
2) Die Emergenz von diesbzgl. Gesetzen
Beides ist voneinander völlig verschieden!!
Das verstehe ich nicht ganz, bzw. erscheint es mir zweifelhaft, dass man das überhaupt ganz sauber trennen kann ohne dann doch wieder etwas zu vernachlässigen, das nicht vernachlässigt werden darf. Naturgesetze existieren in dem Sinne gar nicht.
Als Naturgesetz wird in der Wissenschaftstheorie eine Regelmäßigkeit von Vorgängen in der Natur bezeichnet. Die Pluralform „Naturgesetze“ bezeichnet darüber hinaus die Gesamtheit dieser Regelmäßigkeiten, einschließlich solcher, die noch nicht entdeckt oder formuliert wurden, unabhängig von ihrer spezifischen Formulierung. Von anderen Gesetzen unterscheiden sich Naturgesetze darin, dass sie nicht von Menschen nach deren Belieben in Kraft oder außer Kraft gesetzt werden können. Eine genaue, einheitliche abschließende Definition des Begriffs existiert derzeit nicht.
https://de.wikipedia.org/wiki/Naturgesetz
Naturgesetze sind für mich zunächt einmal stabile, überall und immer wiederkehrende Muster im Geschehen (also der Dynamik!) der Natur, die
von uns so
statisch-fix abstrahiert und formalisiert wurden, dass sie als quantitativ mathematische Relationen in Gleichungen ausdrückbar wurden. Also sind Naturgesetze statische, abstrakte, verallgemeinernde Abbilder der von uns erkannten Muster einer dynamsichen Natur aus vielen wiederkehrenden Einzelfällen - und sie sind ein geistiges Produkt.
Wichtig ist mir hier auch, dass durch diese definierte Perspektive schon festgelegt von vorneherein kein Naturgesetz veränderlich/dynamisch sein kann, obwohl es die wirklichen Muster, die in der Natur beobachtbar sind, immer sind: Durch Naturgesetze wird Dynamik statisch abgebildet.
Die zu stellende Frage lautet: Geht das vollständig?
Aber gut, verfolgen wir das einmal:
tomS hat geschrieben:
Bei (2) haben wir zwei Situationen
a) wir verstehen die Emergenz: Kernphysik aus QCD, Atom- und Molkülphysik aus QED, Supraleitung, Festkörperphysik und Elastizitätslehre, Optik, ... Chemie, Biochemie, Molekularbiologie
b) wir verstehen die Emergenz nicht: ... Strukturbildung im Organismus, Verhaltensbiologie, Geist / Verstand / Bewusstsein
Fakt ist nun, dass wir in allen Fällen, in denen (a) vorliegt, wir heute sicher sagen können, dass emergente Gesetze ohne zusätzliche Zutat aus den fundamentalen Gesetzen ableitbar sind, und dass es prinzipiell ausreichend ist, die fundamentale Ebene zu betrachten. Salopp gesprochen folgt die Biochemie aus der QED und QCD
Einverstanden, für alle Fälle, wo a) vorliegt.
tomS hat geschrieben: ↑11. Jan 2019, 08:08
In den Fällen, in denen (b) vorliegt, erkenne ich zwei verschiedene Argumentationsmuster:
...
tomS hat geschrieben: ↑11. Jan 2019, 08:08
TomS: 1) Auch wird das reale Verhalten höherer Systeme kausal ausschließlich durch die fundamentalen Entitäten bedingt. 2) Gesetze auf höherer Ebene haben strukturierenden, ordnenden Charakter. Das Vorliegen von (b) besagt nichts über die (1), d.h. unsere Unkenntnis der Emergenz bei (2) führt nicht zu etwas qualitativ Neuem bei (1). Vereinfacht: (1) ist reduzibel, (2) ist praktisch irreduzibel - möglicherweise kann sich das ändern - und es ändert sich in immer mehr Fachbereichen
Ich bin da gar nicht weit weg von dir. Es geht hier um Überdeterminiertheit.
Ich weise nur u.a. auf folgende Schwierigkeiten bzw. Unsicherheiten hin:
- selbst wenn es so ist, nützt das gar nichts, wenn man solche Systeme in der Realität sinnvoll beschreiben will
- es ist nicht klar, ob unsere Welt vollständig kausal-exakt nach fundamentalen Gesetzmäßigkeiten, die noch dazu allein im Allerkleinsten zu finden sind, abläuft
- die Welt ist in ihrer konkreten Entwicklung nicht allein durch die NG festgelegt, es braucht zusätzlich noch die Naturkonstanten und Anfangsbedingungen und ein Bewegungsmoment. Durch die prinzipiell unbekannten exakten Anfangsbedingungen (die ja keine Naturgesetze sind) und evtl. auch durch nicht a priori ausschließbare Störungen 'von außen' wird ein Freiraum aufgespannt, das zu einem Rauschen führt, aus dem komplexe Systeme aus der Bewegung heraus neue inhärente gesetzliche Muster gewinnen können, die die Wikipedia-Definition von "Naturgesetz" erfüllen. Im Grunde kann man das so sehen, dass aus den Anfangsbedingungen erkennbare Muster gewonnen werden.
- natürliche komplexe Systeme können so sensitiv sein, dass man für eine korrekte Beschreibung als Systemgrenzen mindestens das gesamte beobachtbare, wenn nicht das ganze Universum festlegen müsste, das ist uns nicht möglich bzw. führt uns nicht weiter. Das ist zunächst eher eine praktische Grenze, die aber für uns fundamental ist, denn was wir nicht exakt definieren können, können wir auch nicht exakt beschreiben und auch nicht vollständig auf etwas anderes reduzieren. Und sie setzt die Existenz "Universum als fixes Ganzes voraus", falls das so nicht existiert oder nicht vollständig definierbar ist, ist das sogar eine prinzipielle Grenze.
- eine mathematische Durchführung dieses Programms der Reduktion ist bei echt-komplexen Systemen ebenso unmöglich, schon deshalb weil irrationale Zahlen unendlich viele Nachkommastellen haben, es ist dabei notorisch unklar, ob diese Idealisierung die Natur korrekt abbildet.
Das heißt für mich insgesamt:
Dein ganzer Gedankenaufbau ist mir zu unsicher, du musst mir zu viele Annahmen treffen, um klare, sichere Aussagen gewinnen zu können.
Deshalb konzentriere ich mich ab dem Punkt lieber auf das, was man praktisch-empirisch-konkret feststellen kann.
tomS hat geschrieben: ↑11. Jan 2019, 08:08
Damit ist es letztlich eine Glaubenssache: ich bin bzgl. der Reduzibilität ein Optimist und glaube nicht, dass unsere gegenwärtige Unkenntis bei (2b) etwas fundamentales über (1) aussagt; ihr seid diesbzgl. Pessimisten und denkt, dass (2b) selbst eine gewisse Realität der Natur selbst = bei (1) widerspiegelt. Ich extrapoliere den Erfolg von (2a); ihr extrapoliert dem Misserfolg bei (2b).
So wärst du aus meiner Sicht sogar ein ein tollkühner Optimist, es besteht aus meiner Sicht
überhaupt keine Hoffnung, dass das in deinem Sinne jemals vollständig gelingen könnte. Auf der Beschreibungsebene ist es
prinzipiell unmöglich.
Zur Wiederholung:
Ich denke, die Frage aus Perspektive der Physik lautet:
Wie ist es möglich bzw. soll es möglich sein, dass in einer vollständig determinierten Welt, die durch die bekannten grundlegenden linearen Naturgesetze der Physik bereits vollständig festgelegt ist, weitere echte Naturgesetzlichkeiten hervortreten können (z.B. in komplexen Systemen)?
Denn das wäre dann eine Übedeterminierung der Welt und das würde daher keinen Sinn machen.
Auf diese Frage gibt es verschiedene Antworten:
a) es ist nicht möglich
b) die Welt ist nicht vollständig determiniert
c) die 'weiteren NG' kommen letztlich aus den Anfangsbedingungen plus dem Bewegungsmoment, aus denen sie sozusagen explizit werden, als naturgesetzlicher Ausdruck der Anfangsbedingungen
Außerdem ist es hier hilfreich, wenn wir ein komplexes System zum Vergleich zu natürlichen Systemen betrachten, das auf einem realen Computer läuft und ausschließlich mit endlichen Werten der natürlichen Zahlen arbeitet, also sicher vollständig exakt und determiniert abläuft.
Lassen sich hier grundlegende Unterschiede zu einem natürlichen komplexen System ausmachen oder nicht?
Auf diesem Weg ließe sich u.a. evtl. ein besserer Einblick in die Optionen b) und c) gewinnen.