Skeltek hat geschrieben:Mir geht es darum, ob die Aufspaltung der VWI bereits dann passiert, wenn man die Schachtel öffnet oder erst dann, wenn die Information über den Kollaps beim Betrachter ankommt.
Zeit für einen kleinen Schock?
Es gibt die Aufspaltung gar nicht ...
Skeltek hat geschrieben:Eine Wechselwirkung beinhaltet eine wechselseitige Wirkung, was du als Begriff in statischen, nicht aber dynamischen Systemen verwenden kannst.
Natürlich kann ich "Wechselwirkung" in dynamischen Systemen verwenden.
Freiheitsgrade sind dann "wechselwirkend", wenn der in ihnen formulierte Hamiltonoperator nicht diagonal ist.
Skeltek hat geschrieben:Der Betrachter hat keine Wirkung auf das Teilchen wenn er die Information über dessen Zerfall erhält bzw einen Impuls oder Teilchenbeschuss in empfang nimmt.
Es ist widersinnig, hier mit Teilchen zu argumentieren. Wir diskutieren die Interpretation des quantenmechanischen Formalismus, und der enthält keine Teilchen!
Dekohärenz: Wir betrachten ein quantenmechanisches System, z.B. einen radioaktiven Atomkern im Superpositionszustand a|X*> + b|X,...> Im zweiten Term deutet |...> die Zerfallsprodukte an, z.B. ein Photon. Dieses System steht in WW mit einem Messgerät, z.B. einem Detektor für Photonen. Das Messgerät sei initial in einem Zustand |0>. Außerdem können wir noch Umgebungsfreiheitsgrade |E> betrachten, z.B. Luftmoleküle sowie Photonen im Rahmen der Beobachtung (Katzen, Kästen und Beobachter tun's auch).
Initial liegt also ein Zustand (a|X*> + b|X,...>) |0> |E> vor.
Nun Wechselwirkung |...> mit dem Messgerät und letzteres (kontinuierlich) mit der Umgebung |E>. Dies führt zu einer Registrierung des Zerfallsproduktes |...> sowie einem entsprechenden "Zeigerzustand" |1>, der hier z.B. genau ein Photon "zählt" (ein Zeiger, Display, ... jedenfalls etwas makroskopisches). Außerdem - und das ist für die Dekohärenz essentiell - wird der Zustand des Messgerätes mit dem Zustand der Umgebung verschränkt.
Zu einem späteren Zeitpunkt liegt ein näherungsweise diagonaler Zustand a|X*,0,E'> + b|X,...,1,E''> + ... vor. Näherungsweise diagonal bedeutet, dass weitere Terme vorliegen, dass diese näherungsweise orthogonal zu den beiden notierten sind, und dass deren Gewichte extrem klein sind. In diesem Sinne folgt eine Zweigstruktur aus der Dekohärenz.
Wichtig ist, dass diese Zweigstruktur dynamisch stabil bleibt, dass also die Zeitentwicklung U(t) = exp(-iHt) keine (bzw. nur winzig kleine) Interferenzterme zwischen diesen beiden Unterräumen generiert: <X,...,1,E''|H|X*,0,E'> = 0 (in sehr guter Näherung). Die Unterräume werden innerhalb der Dekohärenzzeit dynamisch entkoppelt, und bleiben es in der Folge. Deswegen sieht man immer nur eine klassische Katze, also sozusagen immer nur eine Komponente der Katze.
Ockham: Bisher ist das ganz normaler Formalismus, und in jeder Interpretation gültig. Die VWI behauptet nun, dass dies schon alles ist. Die KI behauptet dagegen, dass im Zuge eines zufälligen Kollaps gemäß der Gewichte |a|^2 bzw. |b|^2 nur einer der beiden Zweige real bleibt, was der unitären Zeitentwicklung widerspricht, und wofür kein zeitlicher Ansatzpunkt im Sinne eines "jetzt ist es so weit" genannt wird.
Zurück zur VWI könnte man sagen, dass die Existenz einer Zweigstruktur lediglich ein spezielles Epiphänomen darstellt, dass die eigtl. Realität immer dem einen einzigen Zustandsvektor zukommt.
In diesem Sinn ist der Kollaps eine "unphysikalische" und nach Meinung von Everett et al. künstliche und insbs. unnötige Zutat, also abzulehnen gemäß Ockham's razor. Ockham betrachtet die Einfachheit der Voraussetzungen einer Theorie, nicht ihre Konsequenzen; gemäß dieses Prinzips ist das Kollapspostulat überflüssig, weil bereits die Dekohärenz das einzig sichtbar Phänomen, nämlich die Beobachtung genau einer klassischen Welt erklärt, und weil sie mathematisch präzise vorhersagt, welche Welten vorliegen können und wie der "Kollap" tatsächlich funktioniert: es handelt sich um eine (näherungsweise instantane) Herausbildung orthogonaler, dynamisch entkoppelter Zweige im Zuge der Zeitentwicklung eines Quantensystems mit einem makroskopischen System.
Wann: Es sollte also klar ist, dass es nicht genau einen Zeitpunkt gibt, an dem die Verzeigung stattfindet, sondern dass ein (extrem schneller) Prozess vorliegt, dass nämlich das Auftreten der "Zweigstruktur" im Rahmen der unitären Zeitentwicklung stattfindet. Die "Zweige" werden zunehmend orthogonal und interferenzfrei (dekohärent), jedoch in einem extrem kurzen Zeitraum - der Dekohärenzzeit - abhängig von Grad der Wechselwirkung mit den unbeobachtbaren Umgebungsfreiheitsgraden.
Wo: Als nächstes zur Fragestellung, wo die Verzeigung stattfindet. Überall und nirgends! Der o.g. Formalismus ist koordinaten- bzw. darstellungsfrei. Wenn du eine Wellenfunktion in Ortsdarstellung einführen möchtest und wenn du (künstlich) ein Subsystem "Beobachter" auszeichnen möchtest, dann kannst du das tun, und dann wirst du bzgl. dieses Subsystems eine Antwort erhalten. Die Definition eines Subsystems entspricht dem Ausspuren der unbeobachtbaren Umgebungsfreiheitsgrade und führt auf einen (näherungsweise) diagonalen Dichteoperator der Struktur a|X*,0,"beobachtet 0"><X*,0,"beobachtet 0"| + ... Für ein anderes Subsystem werden andere Freiheitsgrade ausgespurt und du erhältst eine andere Antwort.
Wie viele Zweige: Nicht eindeutig festgelegt, d.h. beobachterabhängig! Betrachten wir dazu nicht das o.g. Experiment sondern die Registrierung eines Photons durch ein Array aus winzigen Photodetektoren, dargestellt auf einem Bildschirm und beobachtet durch den Versuchsleiter. Du kannst nun selbst die Granularität der Zweige festlegen und bzgl. dieser Zweige die Orthogonalität bzw. Dekohärenz prüfen. Eine sehr grobe Granularität wäre die Aufteilung des Bildschirms in Sektoren, die der Beobachter wahrnimmt, also z.B. ein Quadratzentimeter. Eine feinere Granularität ist durch die Photodetektoren selbst gegeben. Die feinste Auflösung resultiert aus der Tatsache, dass das Photon mit einem Elektron im Photodetektor interagiert.
Jede Festlegung erlaubt die Prüfung der Orthogonalität, und jede Festlegung liefert ein anderes Maß der Granularität. Entspricht die Granularität genau der des Bildschirms selbst, liegt diesbzgl. keine Verzeigung vor. Entspricht die Auflösung der Wechselwirkung mit einem Elektron ohne weitere Beobachtung, entspricht die "Zweigstruktur" trivialerweise der des mikroskopischen Quantenzustandes; hier liegt jedoch sicher keine Dekohärenz vor. Dazwischen gibt es von dir selbst festzulegende Abstufungen, und bzgl. jeder einzelnen stellst du ein gewisses "Maß an Zweighaftigkeit" fest.
Das Wesen der Everettschen Interpretation besteht zunächst in ihrem minimalen Ansatz: es wird ausschließlich der minimal notwendige Formalismus betrachtet, keine weiteren und unnötigen Postulate (Kollaps) eingeführt, jedes Phänomen ausschließlich damit mathematisch beschrieben (Dekohärenz), und somit möglichst unnötiger Ballast vermieden. Darüberhinaus nimmt Everett an, dass jede physikalische Theorie und damit auch die Quantenmechanik gewisse strukturelle Aspekte der Realität kodiert (und nicht nur unser Wissen beschreibt). Demzufolge akzeptiert Everett Phänomene, die aus dieser Theorie folgen, als real (solange bis sie experimentell widerlegt sind).
Nicht Everett sondern deWitt u.a. begingen den Fehler, überhaupt erst von "vielen Welten", "Verzweigung" u.a. zu sprechen, was streng genommen nicht Kern der Theorie ist, sondern Wortungetüme, geboren aus der vermeintlichen Notwendigkeit, nicht sprachlich fassbare Entitäten dich in Sprache zu pressen. Leider streitet man seither mehr über die Worte als über die Sache selbst, und die meisten Leute, die darüber reden, kennen letzteres überhaupt nicht. Die meisten vermeintlichen Diskussionen zur Everettschen QM sind gar keine Diskussionen zur Everettschen QM selbst, sondern zu vermeintlichem Wissen aus unzuverlässigen Quellen zu mehrfach abgeschriebenen Unsinn. Intertextualität, Postmoderne usw. lassen grüßen.
In diesem Sinne: lasst uns über die QM selbst reden ...