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Sterile Neutrinos als Kandidaten für Dunkle Materie?

Verfasst: 10. Feb 2018, 19:31
von tomS
Sterile Neutrinos als Kandidaten für Dunkle Materie?
http://www.astronews.com/news/artikel/2 ... -008.shtml

Bis heute rätseln Wissenschaftler, aus was die Dunkle Materie bestehen könnte, die einen beträchtlichen Teil der Masse des Universums ausmacht. Physiker aus Mainz haben nun eine neue Theorie entwickelt und schlagen vor, Dunkle-Materie-Teilchen in einem ganz anderen Massenbereich zu suchen als bislang. Helfen könnte dabei die kosmische Röntgenstrahlung.

...

"Am Himmel zeigte sich an verschiedenen Stellen eine bisher unbekannte Spektrallinie im Röntgenbereich bei einer Energie von 3,5 Kiloelektronenvolt (keV). Diese ungewöhnliche Röntgenstrahlung von Galaxien und Galaxienhaufen könnte ein Hinweis auf Dunkle Materie sein".

...

Die Wissenschaftler [um Prof. Kopp vom Mainzer Exzellenzcluster Precision Physics, Fundamental Interactions and Structure of Matter] haben ein Szenario durchgerechnet, bei dem zwei Dunkle-Materie-Teilchen aufeinandertreffen und zerstrahlen. Dunkle-Materie-Teilchen wären demnach Fermionen mit einer Masse von nur wenigen Kiloelektronenvolt, häufig auch als sterile Neutrinos bezeichnet.

Weiteres findet ihr auf der Astronews-Seite und im dort verlinkten Fachartikel (den ich noch lesen muss).

Re: Sterile Neutrinos als Kandidaten für Dunkle Materie?

Verfasst: 10. Feb 2018, 23:03
von Frank
Nehmen wir mal einen kurzen Moment an, es würde sich heraustellen, dass diese sterilen Neutrinos wirklich die DM sind.
-Was würde das denn bedeuten, außer das man es halt weiss? (Ist jetzt sehr platt, aber ich weis nicht wie ich mich sonst ausdrücken soll)
-Welche Konsequenzen hätte das ?
-Könnte man daraus einen Nutzen ziehen?

Re: Sterile Neutrinos als Kandidaten für Dunkle Materie?

Verfasst: 10. Feb 2018, 23:53
von tomS
Frank hat geschrieben:
10. Feb 2018, 23:03
Nehmen wir mal einen kurzen Moment an, es würde sich heraustellen, dass diese sterilen Neutrinos wirklich die DM sind.
-Was würde das denn bedeuten, außer das man es halt weiss?
Das ist für den Physiker der wesentliche Beweggrund.
Frank hat geschrieben:
10. Feb 2018, 23:03
-Welche Konsequenzen hätte das ?
Man hätte ein präzises Modell der DM, und man wüsste sehr viel mehr über die Elementarteilchenphysik.
Frank hat geschrieben:
10. Feb 2018, 23:03
-Könnte man daraus einen Nutzen ziehen?
Vermutlich nicht - jedenfalls keinen praktischen.

Re: Sterile Neutrinos als Kandidaten für Dunkle Materie?

Verfasst: 11. Feb 2018, 10:56
von Timm
Sehr spannend, sterile Neutrinos sind schon länger Kandidaten für DM. Mit der Annahme Annihilation statt Zerfall kommt nun offenbar Bewegung in die Sache. Ich habe das paper nur überflogen, erwähnt sind auch Zwerggalaxien. Ein Problem war bisher, daß das Modell der DM deren gleichsinnige Rotation um Galaxien nicht lieferte. Vielleicht bringt dieser neue Ansatz hier einen Fortschritt.

Offenbar sind sterile Neutrinos schwieriger nachzuweisen als die bisher entdeckten Neutrinos. Woran liegt das eigentlich?

Re: Sterile Neutrinos als Kandidaten für Dunkle Materie?

Verfasst: 11. Feb 2018, 11:13
von tomS
Anbei die Daten der o.g. Arbeitsgruppe

IMG_4786.JPG
Spektrum
IMG_4786.JPG (134.29 KiB) 9140 mal betrachtet

Re: Sterile Neutrinos als Kandidaten für Dunkle Materie?

Verfasst: 11. Feb 2018, 11:20
von tomS
Timm hat geschrieben:
11. Feb 2018, 10:56
Offenbar sind sterile Neutrinos schwieriger nachzuweisen als die bisher entdeckten Neutrinos. Woran liegt das eigentlich?
Sterile Neutrinos wechselwirken selbst nicht mit anderen Teilchen des Standardmodells, d.h. ausschließlich gravitativ. Je nach Modell sind jedoch Oszillationen mit normalen Neutrinos möglich.

Um jetzt diese Photonlinie zu erklären, muss man zunächst einen Zwischenzustand einführen, in den sie annihilieren können, und der dann selbst in zwei Photonen des Standardmodells zerfallen kann. Der Ansatz über sterile Neutrinos bedeutet also, das man noch weitere neue Teilchen für diesen Zwischenzustand einführen muss.

Re: Sterile Neutrinos als Kandidaten für Dunkle Materie?

Verfasst: 11. Feb 2018, 12:10
von Timm
tomS hat geschrieben:
11. Feb 2018, 11:20

Sterile Neutrinos wechselwirken selbst nicht mit anderen Teilchen des Standardmodells, d.h. ausschließlich gravitativ.

Um jetzt diese Photonlinie zu erklären, muss man zunächst einen Zwischenzustand einführen, in den sie annihilieren können, und der dann selbst in zwei Photonen des Standardmodells zerfallen kann. Der Ansatz über sterile Neutrinos bedeutet also, das man noch weitere neue Teilchen für diesen Zwischenzustand einführen muss.
Ah, ok danke. Das dürfte wohl den Nachweis äußerst schwierig machen.

Eine andere Frage betrifft die zeitliche Entwicklung der Dichte der DM, derzeit ca. 25%, seit dem Urknall. Man würde erwarten, daß sie aufgrund dieser Annihilation abnimmt. Ich kenne allerdings hier keine Schätzungen. Falls signifikant, sollte man im Vergleich zu heute im CMB mehr davon finden.

Re: Sterile Neutrinos als Kandidaten für Dunkle Materie?

Verfasst: 11. Feb 2018, 13:38
von tomS
Timm hat geschrieben:
11. Feb 2018, 12:10
Eine andere Frage betrifft die zeitliche Entwicklung der Dichte der DM, derzeit ca. 25%, seit dem Urknall. Man würde erwarten, daß sie aufgrund dieser Annihilation abnimmt. Ich kenne allerdings hier keine Schätzungen. Falls signifikant, sollte man im Vergleich zu heute im CMB mehr davon finden.
Eine Abschätzung würde ich wie folgt angehen:

Die Annihilationsrate ist proportional zur Dichte der DM. Der zeitliche Verlauf der Dichte folgt derjenigen für ein materiedominiertes FRW-Universum.

Eine mögliche Energieabhängigkeit vernachlässigen wir; diese wäre signifikant in der Nähe von Schwellenenergien zur Paarerzeugung oder ähnlicher Prozesse, sonst eher schwach ausgeprägt, und insbs. für kalte DM gering. Außerdem sind natürlich weitere Teilchen eines “hidden sectors” weitgehend unbekannt.

Re: Sterile Neutrinos als Kandidaten für Dunkle Materie?

Verfasst: 11. Feb 2018, 14:57
von Timm
tomS hat geschrieben:
11. Feb 2018, 13:38
Die Annihilationsrate ist proportional zur Dichte der DM. Der zeitliche Verlauf der Dichte folgt derjenigen für ein materiedominiertes FRW-Universum.
Das erste ja, das zweite nicht wirklich. Im FRW-Universum sinkt die Materiedichte auf sehr großen Skalen und nähert sich damit dem Fluid an, während Galaxien mit ihrem DM Halo als gravitativ gebundene Systeme an der Expansion nicht teilnehmen. Gleiches dürfte für die überdichten Regionen vor der Freisetzung des CMB gelten.
tomS hat geschrieben:
11. Feb 2018, 13:38
Eine mögliche Energieabhängigkeit vernachlässigen wir; diese wäre signifikant in der Nähe von Schwellenenergien zur Paarerzeugung oder ähnlicher Prozesse, sonst eher schwach ausgeprägt, und insbs. für kalte DM gering. Außerdem sind natürlich weitere Teilchen eines “hidden sectors” weitgehend unbekannt.
Man müßte zunächst die Wahrscheinlichkeit für die Kollision zweier steriler Neutrinos abschätzen. Aus der bekannten Dichte der DM und der Teilchenmasse sollte eine mittlere freie Weglänge folgen. Für die Geschwindigkeit der Teilchen gibt es vermutlich vernünftige Annahmen, aber wie sieht es mit dem Einfangquerschnitt aus?

Re: Sterile Neutrinos als Kandidaten für Dunkle Materie?

Verfasst: 11. Feb 2018, 18:06
von tomS
Timm hat geschrieben:
11. Feb 2018, 14:57
tomS hat geschrieben:
11. Feb 2018, 13:38
Die Annihilationsrate ist proportional zur Dichte der DM. Der zeitliche Verlauf der Dichte folgt derjenigen für ein materiedominiertes FRW-Universum.
Das erste ja, das zweite nicht wirklich. Im FRW-Universum sinkt die Materiedichte auf sehr großen Skalen und nähert sich damit dem Fluid an, während Galaxien mit ihrem DM Halo als gravitativ gebundene Systeme an der Expansion nicht teilnehmen. Gleiches dürfte für die überdichten Regionen vor der Freisetzung des CMB gelten.
Ich sehe nicht, wieso wir für DM Verklumpung berücksichtigen sollen, für normale Materie dagegen nicht. Ich würde für beide einen bis auf die Annihilation - identischen Ansatz wählen.
Timm hat geschrieben:
11. Feb 2018, 14:57
Man müßte zunächst die Wahrscheinlichkeit für die Kollision zweier steriler Neutrinos abschätzen.
Dazu müsste man die Zahl der heute beobachteten Photonen (wenn sie denn aus diesem Zerfall stammen) in Relation zu der Größe des beonachteten Volumensd setzen (und innerhalb dieses Volumens natürlich das "Alter" berücksichtigen)
Timm hat geschrieben:
11. Feb 2018, 14:57
Aus der bekannten Dichte der DM und der Teilchenmasse sollte eine mittlere freie Weglänge folgen.
Ich denke, das funktioniert alles nicht (die Parameter der Wechselwirkung sind weitgehend unbekannt).

Re: Sterile Neutrinos als Kandidaten für Dunkle Materie?

Verfasst: 11. Feb 2018, 19:04
von Timm
tomS hat geschrieben:
11. Feb 2018, 18:06

Ich sehe nicht, wieso wir für DM Verklumpung berücksichtigen sollen, für normale Materie dagegen nicht. Ich würde für beide einen bis auf die Annihilation - identischen Ansatz wählen.
Das verstehe ich nicht. Beides verklumpt und nimmt als gravitativ gebundenes System an der Expansion nicht teil, unabhängig davon, ob sie materie- oder DE-dominiert ist. Ich hatte dein statement "Der zeitliche Verlauf der Dichte folgt derjenigen für ein materiedominiertes FRW-Universum." so verstanden, daß die DM durch die Expansion lokal (der Halo in den eine Galaxie eingebettet ist) verdünnt wird. War es anders gemeint?
tomS hat geschrieben:
11. Feb 2018, 18:06
Timm hat geschrieben:
11. Feb 2018, 14:57
Aus der bekannten Dichte der DM und der Teilchenmasse sollte eine mittlere freie Weglänge folgen.
Ich denke, das funktioniert alles nicht (die Parameter der Wechselwirkung sind weitgehend unbekannt).
Mit der mittleren freien Weglänge erhält man eine Wahrscheinlichkeit für einen Stoß. Aber Knackpunkte sind sicherlich der Stoßquerschnitt und die nicht bekannten Wechselwirkungsparameter. Meine Idee war, man hätte damit zumindest eine grobe Abschätzung für eine Obergrenze der Zahl der Wechselwirkungen, z.b. im Halo der DM.

PS. Das wollte ich schon lange mal loswerden. "Der Prozess", aus dem du zitierst, habe ich gerade zum wiederholten mal gelesen. Ein klasse, fast magisches Buch.

Re: Sterile Neutrinos als Kandidaten für Dunkle Materie?

Verfasst: 11. Feb 2018, 19:22
von tomS
Timm hat geschrieben:
11. Feb 2018, 19:04
tomS hat geschrieben:
11. Feb 2018, 18:06

Ich sehe nicht, wieso wir für DM Verklumpung berücksichtigen sollen, für normale Materie dagegen nicht. Ich würde für beide einen bis auf die Annihilation - identischen Ansatz wählen.
Das verstehe ich nicht. Beides verklumpt und nimmt als gravitativ gebundenes System an der Expansion nicht teil, unabhängig davon, ob sie materie- oder DE-dominiert ist. Ich hatte dein statement "Der zeitliche Verlauf der Dichte folgt derjenigen für ein materiedominiertes FRW-Universum." so verstanden, daß die DM durch die Expansion lokal (der Halo in den eine Galaxie eingebettet ist) verdünnt wird. War es anders gemeint?
Ich denke, jetzt verstehe ich. Du möchtest ab einem gewissen Zeitpunkt ein inhomogenes Universum mit "Inseln" aus normaler Materie + DM annehmen, wobei innerhalb der Inseln die Dichte konstant und außerhalb die Dichte abnehmend modelliert wird. Dann erfolgt die Annihilation vorzugsweise innerhalb der Inseln, jedoch kaum außerhalb. Damit wäre dann zu prüfen, ob das Verhältnis DM : normaler Materie signifikant abnimmt - über den Zeitraum seit der Entstehung der Inseln.

OK, das ist für eine Galaxie sogar einfacher zu rechnen als für ein expandierendes Universum.

Ich habe einen Ansatz, in dem ein Korrekturterm der Form κ(t-t₀) auftaucht, wobei die Zeit dem Betrachtungszeitraum und κ einer Art Zerfallskonstante entspricht. Da nun die DM über genau diesen Zeitraum maßgeblich zur Strukturbildung beitragen soll, nimmt man m.W.n. an, dass genau dieser Term klein ist. Damit wäre die Rate der Abnahme der DM klein, das Verhältnis DM : normaler Materie näherungsweise konstant.
Timm hat geschrieben:
11. Feb 2018, 19:04
Mit der mittleren freien Weglänge erhält man eine Wahrscheinlichkeit für einen Stoß. Aber Knackpunkte sind sicherlich der Stoßquerschnitt und die nicht bekannten Wechselwirkungsparameter. Meine Idee war, man hätte damit zumindest eine grobe Abschätzung für eine Obergrenze der Zahl der Wechselwirkungen, z.b. im Halo der DM.
Meine Idee war, dies aus der Beobachtung direkt zu extrahieren.


PS:
Timm hat geschrieben:
11. Feb 2018, 19:04
Das wollte ich schon lange mal loswerden. "Der Prozess", aus dem du zitierst, habe ich gerade zum wiederholten mal gelesen. Ein klasse, fast magisches Buch.
Ja, und bedrückend. Die Parabel vom Türhüter ist natürlich der Höhepunkt.

Re: Sterile Neutrinos als Kandidaten für Dunkle Materie?

Verfasst: 11. Feb 2018, 22:36
von Timm
tomS hat geschrieben:
11. Feb 2018, 19:22
Du möchtest ab einem gewissen Zeitpunkt ein inhomogenes Universum mit "Inseln" aus normaler Materie + DM annehmen, wobei innerhalb der Inseln die Dichte konstant und außerhalb die Dichte abnehmend modelliert wird. Dann erfolgt die Annihilation vorzugsweise innerhalb der Inseln, jedoch kaum außerhalb.
Ja, das ist derzeitiger Stand. Erst Galaxiensuperhaufen nehmen an der Expansion teil.
tomS hat geschrieben:
11. Feb 2018, 19:22
Ich habe einen Ansatz, in dem ein Korrekturterm der Form κ(t-t₀) auftaucht, wobei die Zeit dem Betrachtungszeitraum und κ einer Art Zerfallskonstante entspricht. Da nun die DM über genau diesen Zeitraum maßgeblich zur Strukturbildung beitragen soll, nimmt man m.W.n. an, dass genau dieser Term klein ist. Damit wäre die Rate der Abnahme der DM klein, das Verhältnis DM : normaler Materie näherungsweise konstant.
Die Ära der Strukturbildung ist nun gemessen am Alter des Universums relativ kurz. Interessant wäre, ob die Beobachtung von Galaxien mit sehr langen Lichtlaufzeiten Hinweise auf eine damals höhere DM Dichte ergeben. Dürfte technisch aber schwierig sein.
tomS hat geschrieben:
11. Feb 2018, 19:22
Meine Idee war, dies aus der Beobachtung direkt zu extrahieren.
Angenommen, man erhält aus der Intensität der Strahlung direkt den Massenschwund der DM, dann wären die Wechselwirkungsparameter nur nice to have. Mal schaun, vielleicht gibt es hierzu schon paper.