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Neutrinoforschung

Verfasst: 8. Mär 2013, 01:06
von seeker
Ich habe einen sehr interessanten Artikel über Neutrinos gelesen.
Ein wenig davon möchte ich weitergeben:

Wie ihr wisst, hat man kürzlich das Higgs-Boson gefunden.
Das ist toll! Die Entdeckung hat aber auch einen Haken: Das Higgs passt wunderbar in das Standardmodell. Das ist auch schlecht!
Manche Theoretiker hatten nämlich gehofft, dass es weniger gut hineinpasst und dass man so Hinweise gewinnen kann, wie dieses erweitert werden kann.

DASS das Standardmodell erweitert werde muss ist nämlich klar - das weiß man:

Es sagt uns nichts über die Dunkle Materie.
Es sagt uns nichts über die Dunkle Energie (die rechnerischen Ergebnisse zur DE sind im Standardmodell offensichtlich um den Faktor 10[up]120[/up] falsch).
Es sagt uns nicht, wie man die Gravitation mit den anderen drei Grundkräften zusammenführen kann.

Deshalb kann es gut sein, dass die dringend benötigten experimentellen Hinweise, die uns den Weg über das Standardmodell hinaus zeigen könnten, aus einer ganz anderen Richtung kommen werden: der Neutrinoforschung!

Es gibt Hinweise, dass sich Neutrinos nicht wie vom Standardmodell vorghergesagt verhalten:

Es kann als gesichert gelten, dass sich die drei bekannten Neutrinoarten ineinander umwandeln.
Das ist laut QM aber nur dann möglich, wenn sie eine Masse haben, also muss das Standardmodell erweitert werden. Aber wie?
Das ist gegenstand der Forschung. Dazu muss man nun zuerst genau bestimmen, wie groß die Massen der Neutrinoarten ist.
So kann man herausfinden welche der vorgeschlagenen theoretischen Ansätze in die richtige RIchtung weisen.
Am KIT in Karlsruhe läuft dazu gerade ein vielversprechender Versuch: "Katrin". In ein paar Jahren wissen wir mehr, dann werden wir die ersten Ergebnisse haben - wenn alles klappt.

Auch jetzt schon kann man indirekt auf die Neutrinomassen schließen, indem man den Kosmos beobachtet:
Das Gemisch der chemischen Elemente aus dem Urknall und von Supernovae, die Expansionsrate des Universums, die CMB, die Art wie Materie verklumpte: all das liefert Hinweise.
Von daher weiß man schon, dass die Neutrinomasse < 0,3 eV sein muss. Das ist unglaublich wenig.
Diese Tage werden außerdem die neuesten Ergebnisse des Weltraumteleskops Planck veröffentlicht, was die möglichen Neutrinomassen weiter eingrenzen wird.

Außerdem:
Es gibt Hinweise, dass es weitere, noch unbekannte Neutrinos geben könnte, sog. "sterile Neutrinos", die ausschließlich gravitativ wechselwirken.
Dies würde eine Reihe von Anomalien erklären, die man bei unterschiedlichen Experimenten gefunden hat.
Würde es gelingen diese nachzuweisen, dann würde das den Theoretikern genau den Schub geben, den diese dringend benötigen.

Weiterhin:
Wir haben ja nach wie vor das ungelöste Problem, dass wir nicht wissen, warum es diesen kleinen Überhang an Materie gegenüber der Antimaterie gegeben hat, der dafür gesorgt hat, dass wir überhaupt existieren.
Auch hier könnten die Neutrinos helfen. Es könnte nämlich sein, dass sich Antineutrinos etwas anders verhalten als Neutrinos (CP-Verletzung).
Die winzigen CP-Verletzungen, die wir bisher gefunden haben, reichen nicht aus, um unser Materie-Universum zu erklären.

Ein neuerer Ansatz ist die sog. "Leptogenese". Sie nimmt an, dass es kurz nach dem Urknall extrem schwere sterile Neutrinos gegeben hat, die dann in Leptonen zerfallen sind - mit einem Überhang zu normalen Leptonen gegenüber den Anti-Teilchen.
Weiterhin sagt die Leptogenese voraus, dass Neutrinos "Majorana-Teilchen" sind. Majorana-Teilchen sind Teilchen, die ihr eigenes Anti-Teilchen sind, die also identisch mit ihrem Anti-Teilchen sind.
(Photonen sind ein Beispiel für Majorana-Teilchen.)
Wenn das stimmt muss es einen besonderen noch nicht nachgewiesenen Kernzerfall geben: den neutrinolosen doppelten Betazerfall.
Auch an diesem Nachweis arbeitet man. Es gab auch schon Beobachtungen in dieser Richtung, leider noch nichts handfestes, reproduzierbares.

Wegen dem enormen Wert, den die Neutrinoforschung haben könnte wurden zahlreiche Experimente vorgeschlagen. Leider sind die meisten davon sehr teuer.
Ich glaube aber, dass dieses Forschungsfeld extrem spannend ist und uns noch sehr wertvolle und überraschende Erkenntnisse bescheren wird.

Das war es! :)

Könnt ihr noch etwas dazu beitragen, was gerade so alles in der Neutrinoforschung passiert und was dort wichtig zu wissen ist?

Grüße
seeker

Re: Neutrinoforschung

Verfasst: 8. Mär 2013, 09:29
von Timm
Auf welchen Artikel beziehst Du Dich? Hier noch einer zur Ergänzung. Man darf in der Tat auf den Ausgang der Experimente in den nächsten Jahren gespannt sein. Vielleicht öffnet sich ja ein Tor zu einer Physik jenseits des Standard Modells. Aber bis aus weiteres bleiben die Neutrinos wohl so mysteriös wie der Tod des Physikers Majorana.

Gruß, Timm

Re: Neutrinoforschung

Verfasst: 8. Mär 2013, 12:44
von seeker
Es war ein Artikel aus der Zeitschrift NewScientist.
https://heft.newscientist.de/reader/ind ... a=90505942
Er ist leider nicht online/kostenlos verfügbar.

Interessant war für mich der Fokuswechsel: Alle Welt schaut auf das Higgs. Bei den Neutrinos gibt es jedoch auch viel Grundlegendes zu entdecken, vielleicht mehr als anderswo.

Hat man eigentlich schon eine vernünftige Beschreibung der Neutrino-Oszillationen? Was kann man da sagen?

Danke noch für den Link mit der Ergänzung.

Beste Grüße
seeker

Re: Neutrinoforschung

Verfasst: 8. Mär 2013, 16:10
von Timm
seeker hat geschrieben:Hat man eigentlich schon eine vernünftige Beschreibung der Neutrino-Oszillationen? Was kann man da sagen?
Mir fehlt da der background. Soweit ich weiß, handelt es sich um quantenmechanische Überlagerungszustände der Neutrino Arten, wobei eine in die andere umgewandelt wird. Dabei kommen nicht definitive Massen sondern Massendifferenzen heraus und lediglich Obergrenzen für die einzelnen Massen.

Grüße, Timm

Re: Neutrinoforschung

Verfasst: 10. Mär 2013, 13:03
von seeker
Das hier ist noch lesenswert:

DUNKLE MATERIE
Sterile Neutrinos und die ersten Sterne
http://www.astronews.com/news/artikel/2 ... -011.shtml

Leptogenese
http://de.wikipedia.org/wiki/Leptogenese

Neutrinoloser Doppel-Betazerfall
http://de.wikipedia.org/wiki/Doppelter_ ... etazerfall

...das hat schon was für sich.

Grüße
seeker

Re: Neutrinoforschung

Verfasst: 11. Mär 2013, 11:09
von Hawkwind
seeker hat geschrieben: Hat man eigentlich schon eine vernünftige Beschreibung der Neutrino-Oszillationen?
Ja, - siehe z.B.
http://de.wikipedia.org/wiki/Neutrinooszillation

Bild

Wie man sieht, muss es eine Massendifferenz zwischen den Neutrinoarten geben, damit es eine Übergangswahrscheinlichkeit zwischen der Neutrino-Flavors gibt: es können also nicht alle Massen gleich Null sein.
Detaillierter - auch der Fall, dass alle 3 Generationen "miteinander" oszillieren - wird es in dieser Diplomarbeit
http://www.mpi-hd.mpg.de/phenocond/pdf/ ... thesis.pdf
beschrieben.

Diese Situation ist sehr analog zu den schon seit vielen Jahrzehnten bekannten Oszillationen im System der neutralen Kaonen und den seit einigen Jahren beobachteten Oszillationen im System der neutralen B-Mesonen; da wird praktisch derselbe Formalismus zur Beschreibung genutzt.

Re: Neutrinoforschung

Verfasst: 14. Mär 2013, 07:13
von tomS
Das spannende an den Neutrinos ist ja, dass sie in einigen Bereichen im Standardmodell die Exoten sind
- warum diese winzigen Massen?
- was ist der Erzeugungsmechanismus für die Massen? Higgs? See-Saw?
- was ist mit Erweiterungen wie sterilen Neutrinos etc.?
- sind Neutrinos Dirac- oder Majoranateilchen?
- ...

All dies ist eigentlich schon Physik jenseits des Standardmodells

Re: Neutrinoforschung

Verfasst: 14. Mär 2013, 09:24
von Timm
Ja, sehr spannend. Neutrinos sind ja längst keine hypothetischen vom Modell geforderten Teilchen mehr. Sie sind allgegenwärtig - und dennoch geheimnisumwittert.
Ich vermute, daß die Massenerzeugung davon abhängt, ob sie Dirac- oder Majoranateilchen sind. Welche dieser Möglichkeiten würde eigentlich besser ins derzeitige Weltbild der Teilchenphysiker passen? Oder anders, was wäre überraschender?
Gibt es Spekulationen hinsichtlich einer inneren Struktur?

Gruß, Timm

Re: Neutrinoforschung

Verfasst: 14. Mär 2013, 09:40
von Hawkwind
Timm hat geschrieben:Ja, sehr spannend. Neutrinos sind ja längst keine hypothetischen vom Modell geforderten Teilchen mehr. Sie sind allgegenwärtig - und dennoch geheimnisumwittert.
Ich vermute, daß die Massenerzeugung davon abhängt, ob sie Dirac- oder Majoranateilchen sind. Welche dieser Möglichkeiten würde eigentlich besser ins derzeitige Weltbild der Teilchenphysiker passen? Oder anders, was wäre überraschender?
Gibt es Spekulationen hinsichtlich einer inneren Struktur?

Gruß, Timm
Im Standardmodell sind sie Dirac-Neutrinos. Einige Prozesse mit Majorana-Neutrinos würden die Leptonenzahl nicht erhalten. Solange man so etwas nicht beobachtet (etwa neutrinoloser Doppelbetazerfall), macht es wahrscheinlich Sinn, von Dirac-Neutrinos auszugehen.

Re: Neutrinoforschung

Verfasst: 16. Mär 2013, 15:35
von deltaxp
sehr gute zusammenfassung seeker, als weiteres manko des standardmodells sehe ich, dass auch die vereinheitlichung mit der Kern-kraft zwischen GUT und Planck-Skala (also 10^16-10^19) GeV nicht gegeben ist. kkeiner weiss wie die Symmetriegruppe auszusehen hat. vielleicht gibt es auch gar keine wirkliche GUT-symmetriegruppe wenn man bedenkte wie eng gut und planck-skala (faktor 1000) im vergleich zur elekroschwachen skala bei 10^3 GeV) lliegen. Vielleicht kann neuutrinoforschung daher auch etwas mehr zur lösung des hierarchieproblems beitragen
seeker hat geschrieben:Wegen dem enormen Wert, den die Neutrinoforschung haben könnte wurden zahlreiche Experimente vorgeschlagen. Leider sind die meisten davon sehr teuer.
ach, seeker, geld ist doch da, dass werfen die regierungen aber lieber den bank-bonzen in den rachen als es für forschung auszugeben. stell dir mal vor 10% davon würden in die forschung fliessen, das wären dann wohl im laufe von 10 jahren selbst schon 100 milliarden euro (oder die währung die nach dem eurto-zusammenbruch kommt..) :)