OK, ich mache dann auch einmal so weiter.
Zu besprechen ist zunächst dieser Vortrag:
Gernot Patzelt - Die Klimaentwicklung der Nacheiszeit, am 23.11.2018
https://www.youtube.com/watch?v=8dW5043ky3Y
Zunächst:
Herr Patzelt war sicher ein anerkannter Geograph, Hochgebirgsforscher und Polarforscher. Er ist seit 2004 pensioniert und 80 Jahre alt.
https://de.wikipedia.org/wiki/Gernot_Patzelt
Dann:
An dem, was er an konkreten empirischen Befunden, insbes. im Mittelteil des Vortrags vorstellt, gibt es für mich wenig zu zweifeln, das sieht alles fundiert aus.
Wir müssen uns also auf das fokussieren, was er daraus ableitet und worüber er überhaupt spricht und nicht spricht.
Worüber spricht er?
Er spricht über die Alpen, vornehmlich über die Gletscherentwicklung seit den letzten 30 Jahren und auch der letzten Eiszeit dort, in einem einzigen Fall dann noch in Bezug zu Grönland. Er spricht also nicht über die Welt.
Deshalb habe ich mir angeschaut, wie es denn weltweit ausschaut:
Wenn man das tut, stellt man fest, dass es z.T. deutliche örtliche Unterschiede gibt, insbes. auch zwischen Nord- und Südhalbkugel, dass aber das sog. "Klimaoptimum" im
Atlantikum real und ein weltweites Phänomen zwischen ca. 8000 und 4000 v.Chr. war.
Insofern lässt sich sein Vortrag also auch auf die weltweite Entwicklung anwenden, auch wenn man das
nur mit äußerster Vorsicht tun darf.
Was sind seine Ableitungen /Aussagen?
Hier wird es spannend. Wichtige Punkte seiner logischen Argumentationslinie sind diese:
- seit 1980 gab es in den Alpen (im 10-Jahres-Mittel) eine Erwärmung von 1,5° [1]
- vor 1850 gab es auch schon eine Erwärmung
- davor gab es eine Kaltphase, die sog. mittelalterliche "kleine Eiszeit"
- Im Holozän (Zeitspanne seit Ende der letzten Eiszeit) gab es vor tausenden von Jahren viele natürliche leichte Erwärmungen und Abkühlungen in den Alpen, insbesondere auch natürliche Zwischenwarmzeiten (=> Atlantikum).
- Man kann das u.a. auch daran sehen, dass heute Objekte vom Eis freigegeben werden, die aus dieser Zeit stammen.[2]
[1]: Hier ist auch zu beachten, dass +1,5° in den Alpen seit 30 Jahren viel mehr ist als der derzeitige weltweite Mittelwert von +1,0° seit 170 Jahren. Dies geht konform mit der Klimaforschung: Es gibt z.T. erhebliche lokale Unterschiede und die Weltmeere erwärmen sich eh deutlich langsamer als das Festland. Eine globale Erwärmung um +2° weltweit kann z.B. leicht +4° in Deutschland bedeuten.
[2] Anmerkung: Hier muss man auch bedenken, dass das nicht nur bedeutet, dass es vor 4000-8000 Jahren schon einmal warm war, sondern auch, dass es schon seit so langer Zeit nicht mehr so warm war wie heute. Und es sagt uns auch noch nicht, ob es heute weltweit wärmer oder kälter als damals ist und wie schnell die jeweiligen Veränderungen damals und heute vonstatten gingen bzw. gehen.
Dann wird es ganz wichtig, seine Behauptungen und Ableitungen ganz zum Ende seines Vortrags (ab Minute 33):
1) In den letzten 10.000 Jahren war es zu 2/3 der Zeit so warm oder wärmer als heute
2) der menschliche Einfluss liegt deutlich innerhalb dieses Schwankungsbereiches
3) von den derzeitigen +1,5° der letzten 30 Jahre in den Alpen sind geschätzt nur 25% bzw. 0,3-0,4° menschlichen Ursprungs
4) der menschliche Einfluss ist daher ein minimaler
5) daher sind die politisch orientierten Summarys des Permanent Service of Glaciers (PSFG) nicht nachvollziehbar bzw. über weite Strecken falsch
Faktencheck:
Zunächst zu 1):
https://de.wikipedia.org/wiki/Atlantikum
Daraus folgt:
1) ist falsch, mindestens wenn man die weltweite Lage betrachtet: Heute ist die Erde schon leicht wärmer als selbst im Temperaturmaximum des Atlantikums - und das ging diesmal extrem schnell. Und
das ist der Punkt! D.h.: Selbst wenn es stimmen würde, würde es nichts aussagen/wäre es irrelevant. 1) sieht für mich daher nach einer Nebelkerze aus.
2) ist daher mehr als fragwürdig bzw. ist es ebenso nicht die Frage, ob der in der sehr kurzen Zeitspanne der letzten 170 Jahre beobachtete Temperaturanstieg derzeit noch kleiner ist als als frühere Temperaturschwankungen in Äonen, seien es nun Jahrtausende oder Jahrmillionen (man muss diese Vergleichs-Zeitspannen ja nur geeignet wählen, dann wird das immer herauskommen). Darum geht es nicht!
Es geht darum, was der menschliche Einfluss in für Menschen relevanten Zeitspannen in der Zukunft bewirken wird. 2) sieht für mich daher ebenfalls nach einer Nebelkerze aus.
Zu 3)-5):
Hier wunderte mich zunächst, wie er auf die 25%/+0,3-0,4° kommt? Mit welcher Rechnung, welcher Begründung? Er hat doch wohl hoffentlich nicht einfach nur die +1,5° der letzten 30 Jahre in den Alpen durch die max. Temperaturdifferenzen in den letzten 10.000-12.000 Jahre geteilt?
Und selbst wenn das stimmte: Dass er diesen seinen
Schätzwert als "minimal" bezeichnet (also selbst +0,3° alle 30 Jahre... das wäre langfristig immer noch sehr viel und nicht vernachlässigbar "minimal") und wie er daraus ableitet, die Wissenschaftsgemeinde läge falsch, erschließt sich mir nicht.
Also: Mir ist die Begründung für 3) unklar, sie wird nicht ausgeführt oder belegt. 4) und 5) sind daher für mich nicht logisch nachvollziehbar.
Außerdem ist es sehr verwunderlich, dass er nichts dazu sagt, was denn dann die natürlichen Ursachen der Klimaänderungen in den letzten 10.000 Jahren seiner Meinung nach waren? Und warum diese auch heute wirken und warum heute sehr viel schneller als sonst immer? Wissenschaftlich gesehen reicht es nicht zu sagen: "Die Erklärung durch Ursache A ist falsch oder nur von geringer Bedeutung".
Man muss dann auch eine bessere Alternativerklärung anbieten, einfach nur zu sagen: "es war irgendwie natürlich" reicht bei weitem nicht.
Daran kann man IMHO auch schon erkennen, dass es sich hier nicht um einen wiss. Vortrag handelt, dieser Eindruck aber beim Laien erweckt werden kann, evtl. auch soll.
Ich habe noch zwei wissenschaftliche Veröffentlichungen (peer-reviewed, erschienen auch im renommierten Elsevier) gefunden:
[3] Glacier fluctuations during the past 2000 years (2016)
https://www.researchgate.net/publicatio ... 2000_years
[4] Holocene glacier fluctuations (2015)
https://www.researchgate.net/publicatio ... uctuations
Dort finden sich sehr viele Informationen zur weltweiten Entwicklung der letzten 2000 Jahre bzw. der letzten ca. 10.000 Jahre.
Ich beginne mit [3], wo die letzten 2000 Jahre betrachtet werden:
Ich fange mit einer wichtigen Grafik an:
Man schaue sich bitte in [3] Fig. 5 auf S. 76 an.
- Gletscher 1 750.jpg (61.26 KiB) 3920 mal betrachtet
Man beachte den plötzlichen, extrem schnellen/starken Abfall in den letzten ca. 150 Jahren. Daraus geht deutlich hervor, dass die Gletscherentwicklung in der letzten Zeit eine ganz andere ist als früher, plötzlich und unerwartet einbricht und es ist eindrücklich, dass dort gerade etwas anderes geschehen muss als in vorindustriellen Zeiten: eine "Anomalie".
Weiter zu Fig. 6 auf S. 77:
- Gletscher 2 750.jpg (80.36 KiB) 3920 mal betrachtet
Daraus kann auch der Laie ersehen, dass die o.g. Anomalie offenbar nicht durch Vulkanismus oder Veränderungen der Sonnenaktivität erklärlich ist.
Auf S. 83, Punkt 6.4. kann man dann folgende Zusammenfassung lesen:
6.4. 20th century
Glaciers were as small as today (late 20th e early 21st centuries)
in some regions and likely even smaller several times in the past
two millennia. However, the current globally widespread glacier
retreat is unusual in the context of the past two millennia and,
indeed, for the whole Holocene. Contemporary glacier retreat
breaks a long-term trend of increased glacier activity that
dominated the past several millennia. The trend of glacier
retreat is global, and the rate of this retreat has increased in the
past few decades. The observed widespread glacial retreat in the
past 100e150 years requires additional forcing outside the
realm of natural changes for their explanation. With a high
probability anthropogenic greenhouse gas emissions are the
most likely reason for the prevalent, ongoing global ice loss.
Dann zu [4], wo das gesamte Holozän weltweit betrachtet wird:
Ich bringe daraus nur zwei kurze Zitate, mag jeder interessierte selber genauer nachlesen (Abstract und Zusammenfassung lesen ist hier für einen Schnelldurchlauf immer empfehlenswert).
Aus dem Abstract:
The rate and the global character of glacier retreat in the 20th through early 21st centuries appears unusual in the
context of Holocene glaciation, though the retreating glaciers in most parts of the Northern Hemisphere
are still larger today than they were in the early and/or mid-Holocene. The current retreat,however, is occurring during an interval of orbital forcing that is favorable for glacier growth and is therefore caused by a combination of factors other than orbital forcing, primarily strong anthropogenic
effects. Glacier retreat will continue into future decades due to the delayed response of glaciers to climate change.
Aus der Zusammenfassung, S.27:
5.5. Modern glacier retreat in the Holocene context
Perhaps of most significance, there is much evidence of unusual
glacier behavior in the last century (and especially in the last few
decades) in many regions compared to Holocene glacier changes.
The recent exposure of organic material buried under the ice since
the early to mid Holocene in some regions is unprecedented for at
least the last four to five millennia and in some areas (e.g. in the
Canadian Arctic: Miller et al., 2013) possibly since the Last Interglacial.
The retreat is occurring at very high rates, is almost universally
global in scale and is acting during an interval of orbital
forcing favorable for glacier growth, rather than degradation. This
highlights the remarkable consequences of anthropogenic forcing
on glaciers worldwide.
So. Welche Schlüsse ziehen wir daraus? Kann man Patzelts Schlussfolgerungen hier ernst nehmen?
Ansonsten:
Das war jetzt wieder einmal viel Mühe und hat mich viel Zeit gekostet, ohne dass mir klar ist, ob das wirklich etwas bringt oder jemanden wirklich interessiert. Noch mehr von dieser Seite möchte ich im Moment lieber zurückstellen, besser wäre es auch einmal Vorträge von aktiven, renommierten Klimaforschern anzusehen. Die kann ich gerne auch liefern.