Seite 1 von 1

Re: Zur Geometrie und zur Bedeutung der Metrik

Verfasst: 15. Feb 2018, 19:41
von tomS
Betrachten wir der Einfachheit halber eine 1-dim. Linie als Modell-Raum, sowie als zweite Dimension die Zeit. Um die Sache nicht zu verkomplizieren, ignorieren wir die Vermischung zu einer Raumzeit, d.h. wir reden wirklich nur über ein sehr einfaches Modell.

Auf der Linie existieren Punkte P,Q, …. Für diese führen wir Koordinaten x(P), y(Q), … ein; dadurch wird diese Linie zu einem R¹. Dieser R¹ erlaubt eine „natürliche Abstandsfunktion“ d(x,y), d.h. eine spezielle Metrik (ich verzichte auf die mathematisch präzise Definition) Präzisierung.

Nun folgendes: stell dir eine Linie ohne jegliche Bemaßung vor, sowie zwei Markierungen P, Q. Damit hast du zwei Punkte definiert, und diese beiden Punkte haben einen Abstand, den du mittels eines Lineals messen kannst, ohne dass du die gesamte Linie zuvor mit Markierungen bzw. Koordinaten x, y, … versehen musst. D.h. es existiert ein messbarer Abstand d(P,Q) zwischen zwei Punkte P,Q, ohne dass es überhaupt der Einführung von Koordinaten x(P), y(Q).

Wenn du nun jedoch Koordinaten x(P), y(Q) einführst, so wirst du das im o.g. Sinne des R¹ tun, so dass

d(P,Q) = d(x(P), y(Q)) = d(x,y) = |x – y|

gilt.

Dies ist genau die „natürliche Abstandsfunktion“.

Beachte: primär gegeben sind die Linie sowie zwei Punkte P,Q. Koordinaten x,y kommen erst später und sind zunächst unnötig, auch für die Definition und die Messung eines Abstandes.

Du hast nun den 1-dim. Raum im Sinne des R¹ mit seinen Koordinaten x,y, … im Sinn.

Daran ist mathematisch nichts falsch. Es hat sich jedoch gezeigt – und das musst du mir bitte glauben – dass man mit dieser Konstruktion nicht zur ART und damit auch nicht zu zutreffenden physikalischen Modellen gelangen kann. Die ART erfordert darüber hinaus die Einführung weitere mathematischer Strukturen, insbs. einer sogenannten Riemannschen Metrik.
Die mathematischen Grundlagen gehen auf die Mathematiker Bernhard Riemann und später Élie Cartan zurück. Angewandt für die Konstruktion der ART haben diese Methoden Albert Einstein zusammen mit dem Mathematiker Marcel Grossmann, sowie unabhängig davon der Mathematiker David Hilbert.

Die zentrale Erkenntnis ist, dass sich nicht nur Objekte innerhalb der Raumzeit bewegen, sondern dass die Raumzeit selbst dynamisch ist. Ersteres kann mit einer statischen Linie sowie den Koordinaten x,y,… im Sinne des R¹ beschrieben werden (Newtonsche Mechanik, letztlich auch SRT). Letzteres erfordert jedoch zwingend die zusätzliche Struktur der Riemannschen Metrik. Anders formuliert: ohne Riemannsche Metrik sind sämtliche dynamische Phänomene der Raumzeit, z.B. Gravitationswellen, nicht beschreibbar.

Im Zuge dieser Entdeckung sowie der Einführung der Riemannschen Metrik geschieht nun etwas Interessantes: die Koordinaten werden zu reinen Hilfsgrößen, auf die man theoretisch auch verzichten könnte (manchmal sind sie praktisch, für manche Argumentationen sind sie irrelevant oder sogar hinderlich. Siehe das o.g. Beispiel: die Punkte P und Q existieren auf der Linie, ohne dass du ihnen Koordinaten zuordnen musst. Auch die Ellipsenbahn der Erde um die Sonne existiert und man kann die Eigenschaften der Ellipse messen und beschreiben, ohne Koordinaten einführen zu müssen. Und last-but-not-least werden die Koordinatensysteme (fast) beliebig! Man kann unendlich viele verschiedene einführen und beliebig verändern, ohne dass sich die physikalischen Phänomene ändern.

Letzteres liegt daran, dass die physikalisch interessante Größe die Metrik d(P,Q) ist, nicht jedoch d(x,y). Dass beide identisch sind, ist dem o.g. Spezialfall geschuldet.

Wir verallgemeinern das jetzt wie folgt:

Wir haben wieder eine Linie und zwei Punkte P,Q; diese haben den Abstand D(P,Q). Nun führen wir (fast) beliebige Koordinatensysteme ein, d.h. Koordinaten x(P), x‘(P), x‘‘(P), x‘‘‘(P) … und y(Q), y’(Q), y’‘(Q), y‘‘‘(Q). Und für jedes Koordinatensystem benötigen wir eine spezielle Metrikfunktion d(x,y), d‘(x‘,y‘), d‘‘(x‘‘,y‘‘), d‘‘‘(x‘‘‘,y‘‘‘), ... Die Riemannsche Geometrie fordert nun, dass für alle diese Koordinatensysteme

D(P,Q) = d(x,y) = d‘(x‘,y‘) = d‘‘(x‘‘,y‘‘) = d‘‘‘(x‘‘‘,y‘‘‘) = …

gilt.

Beachte: die physikalische Aussage steckt im Abstand D(P,Q), nicht in einer speziellen Wahl eines speziellen Koordinatensystems mit einer speziellen Metrikfunktion. Der Abstand Erde – Mond ist dir bekannt, ohne dass du jemals ein Koordinatensystem dafür benötigt hättest. Lichtstrahl hinschicken, reflektieren lassen und die Lichtlaufzeit messen reicht völlig aus.

Zuletzt zu einem Spielzeugmodell für ein expandierendes Universum. Wir starten mit einer Linie, besser: einem Gummiband; dieses sei beliebig lang, jedenfalls deutlich länger als der zunächst angenommene Abstand zweier Punkte P,Q. Nun dehnen wir das Gummiband, was zu einem wachsenden Abstand führt. Man beachte, wir haben wiederum kein auf dem Gummiband markiertes Koordinatensystem eingeführt.

Nun betrachten wir das noch statische Gummiband und führen die üblichen Markierungen für ein Koordinatensystem ein, d.h. x = 0, x = 1, x = 2, …, einfach durch Markierung und Beschriftung. Wir verzichten dabei auf die Maßeinheit, warum, wird gleich klar.

Nun messen wir den Abstand D(P,Q) = 7 cm mittels eine Lineals. Geschickterweise haben die Markierungen bzw. Koordinaten die Werte x(P) = 0 und y(Q) = 7. D.h. wir können statt mittels des Lineals den Abstand auch durch Abzählen der Markierungen zu d(x,y) = 7 [cm] ermitteln, wobei wir die Maßeinheit cm ergänzen.

Nun beginnen wir das Gummiband zu dehnen!! Die Markierungen x(P) = 0 und y(Q) = 7 bleiben dabei unverändert auf dem Gummiband stehen, aber der mittels des Lineals gemessene Abstand D(P,Q) wird jetzt zeitabhängig und wachsen.

D.g. die Markierungen = Koordinaten x,y alleine liefern nicht den tatsächlichen Abstand!! Wenn wir etwas später das Gummiband so weit gedehnt haben, dass wir D(P,Q) = 14 cm mittels des Lineals messen, dann wäre die Rechnung |x-y| = |0-7| = 7 physikalisch belanglos.

Also müssen wir noch eine weitere Zutat einführen, die die Koordinaten x,y, mit dem physikalischen Abstand verknüpft. Wir wählen eine spezielle Metrik, die ziemlich genau dem Skalenfaktor in einem expandierenden Universum entspricht:

D(P,Q; t) = a(t) ⋅ |x – y|

D.h. im Skalenfaktor a(t) steckt die zeitabhängige Dehnung des Gummibandes. Dies liefert uns die Möglichkeit, die Hilfsgrößen x,y, zur Berechnung des Abstandes heranzuziehen. x,y, sind jedoch als Elemente des – wie du sagst – statischen R¹ nicht dazu geeignet, die Dynamik des Gummibandes und der veränderlichen Abstände auf dem Gummiband zu beschrieben; der ganze R¹ der übliche Abstandsbegriff |x-y| auf dem R¹ taugt dazu alleine nicht.

In der vollen ART ist dies alles natürlich wesentlich komplizierter …

Übertragen auf deine Kritik bedeutet dies, dass es in der Physik eben gerade nicht um die Ausdehnung des zugrundeliegenden R¹ geht – diese ist sozusagen statisch und immer gleich – sondern um die Ausdehnung des Universums, modelliert mittels der Metrik D auf dem R¹. Die Metrik ist also gerade nicht unwichtig, sondern essentiell. Der zugrundeliegenden R¹ ist tatsächlich statisch, aber er alleine ist eben nicht das Modell für das Universum. Deswegen ist für uns Physiker der zugrundeliegenden R¹ plus der Metrik das Modell des Universums, nicht der R¹ alleine. Wenn du wissen möchtest, wie sich das Universum an sich verhält, dann musst du den R¹ plus der Metrik betrachten; betrachtest du nur den R¹ ohne die Metrik, dann betrachtets du kein physikalisch sinnvolles Modell des Universums. Der Verzicht auf die Metrik folgt nicht Ockham, denn Ockham zufolge soll man auf verzichtbare Entitäten verzichten; die Metrik ist jedoch unverzichtbar.

Re: Zur Geometrie und zur Bedeutung der Metrik

Verfasst: 24. Feb 2018, 15:13
von tomS
Ausgangspunkt war Pippens Frage
Pippen hat geschrieben:
15. Feb 2018, 03:36
Nehmen wir mal IR^3 als Beispiel eines unendlichen Start-Universums. Dann kann es nie sein, dass der Abstand zwischen zwei Raumpunkten (x1,y1,z1) und (x2,y2,z2) "wächst" ...
Der erste Thread hat völlig in die Irre geführt.

Ich habe deswegen diesen neuen Thread eröffnet, um nochmals zu versuchen, die Bedeutung der Metrik und des Begriffs der Expansion zu diskutieren.

Es darf also gerne weiter diskutiert werden, aber bitte mit Bezug zu dieser konkreten Fragestellung.

Re: Zur Geometrie und zur Bedeutung der Metrik

Verfasst: 24. Feb 2018, 20:19
von Pippen
Ein Bild: IR ist ein Stab, Metrik klebt Markierungen auf den Stab und macht ihn zum Lineal. Da kommt A und ändert die Markierungen, in dem er ihre Abstände vergrößert (Raumdehnung). Da kommt B und klebt über die von A veränderten Markierungen die urspründlichen Markierungen drüber, damit man sehe, in welchem Verhältnis beide zueinander stehen.

Kann man sich das auch so vorstellen (und damit die Gummibandvorstellung loswerden)?

Re: Zur Geometrie und zur Bedeutung der Metrik

Verfasst: 24. Feb 2018, 23:42
von ralfkannenberg
Hallo Pippen,

hast Du Lust, dass wir uns in einem eigenen Thread einmal über dichte und abzählbar unendliche Mengen unterhalten ?


Freundliche Grüsse, Ralf

Re: Zur Geometrie und zur Bedeutung der Metrik

Verfasst: 25. Feb 2018, 10:50
von seeker
Hier soll die Bedeutung der Metrik und der Geometrie im Rahmen der physikalischen Theorie "allgemeine Relativitätstheorie" besprochen werden, also eines physikalischen Modells. D.h. es geht hier darum, was die Wissenschaft Physik über die Natur sagen kann, quantitativ, was nicht und wie sie das tut und warum.

Ich stelle einmal ein paar wichtige Punkte heraus:
tomS hat geschrieben:
15. Feb 2018, 19:41
Wenn du nun jedoch Koordinaten x(P), y(Q) einführst, so wirst du das im o.g. Sinne des R¹ tun, so dass

d(P,Q) = d(x(P), y(Q)) = d(x,y) = |x – y|

gilt.

Dies ist genau die „natürliche Abstandsfunktion“.

Beachte: primär gegeben sind die Linie sowie zwei Punkte P,Q. Koordinaten x,y kommen erst später und sind zunächst unnötig, auch für die Definition und die Messung eines Abstandes.

Du hast nun den 1-dim. Raum im Sinne des R¹ mit seinen Koordinaten x,y, … im Sinn.

Daran ist mathematisch nichts falsch. Es hat sich jedoch gezeigt – und das musst du mir bitte glauben – dass man mit dieser Konstruktion nicht zur ART und damit auch nicht zu zutreffenden physikalischen Modellen gelangen kann. Die ART erfordert darüber hinaus die Einführung weitere mathematischer Strukturen, insbs. einer sogenannten Riemannschen Metrik.
tomS hat geschrieben:
15. Feb 2018, 19:41
Die zentrale Erkenntnis ist, dass sich nicht nur Objekte innerhalb der Raumzeit bewegen, sondern dass die Raumzeit selbst dynamisch ist. Ersteres kann mit einer statischen Linie sowie den Koordinaten x,y,… im Sinne des R¹ beschrieben werden (Newtonsche Mechanik, letztlich auch SRT). Letzteres erfordert jedoch zwingend die zusätzliche Struktur der Riemannschen Metrik. Anders formuliert: ohne Riemannsche Metrik sind sämtliche dynamische Phänomene der Raumzeit, z.B. Gravitationswellen, nicht beschreibbar.

Im Zuge dieser Entdeckung sowie der Einführung der Riemannschen Metrik geschieht nun etwas Interessantes: die Koordinaten werden zu reinen Hilfsgrößen, auf die man theoretisch auch verzichten könnte
...
Letzteres liegt daran, dass die physikalisch interessante Größe die Metrik d(P,Q) ist, nicht jedoch d(x,y). Dass beide identisch sind, ist dem o.g. Spezialfall geschuldet.
tomS hat geschrieben:
15. Feb 2018, 19:41
Übertragen auf deine Kritik bedeutet dies, dass es in der Physik eben gerade nicht um die Ausdehnung des zugrundeliegenden R¹ geht – diese ist sozusagen statisch und immer gleich – sondern um die Ausdehnung des Universums, modelliert mittels der Metrik D auf dem R¹. Die Metrik ist also gerade nicht unwichtig, sondern essentiell. Der zugrundeliegenden R¹ ist tatsächlich statisch, aber er alleine ist eben nicht das Modell für das Universum. Deswegen ist für uns Physiker der zugrundeliegenden R¹ plus der Metrik das Modell des Universums, nicht der R¹ alleine.
(mit Hervorhebungen)

Man könnte diese Punkte und einige weitere gemeinsam genauer diskutieren.

Re: Zur Geometrie und zur Bedeutung der Metrik

Verfasst: 25. Feb 2018, 11:08
von tomS
Pippen hat geschrieben:
24. Feb 2018, 20:19
Ein Bild: IR ist ein Stab, Metrik klebt Markierungen auf den Stab und macht ihn zum Lineal. Da kommt A und ändert die Markierungen, in dem er ihre Abstände vergrößert (Raumdehnung). Da kommt B und klebt über die von A veränderten Markierungen die urspründlichen Markierungen drüber, damit man sehe, in welchem Verhältnis beide zueinander stehen.

Kann man sich das auch so vorstellen (und damit die Gummibandvorstellung loswerden)?
Nein, kann man nicht!

Es geht darum, zu diskutieren, dass sich etwas real, d.h. tatsächlich ausdehnt, nicht darum, dass willkürlich Markierungen geändert werden, was für sich alleine noch keine Ausdehnung bedeutet. Markierungen (Koordinaten) alleine haben keinerlei reale Bedeutung und sind physikalisch irrelevant. Physikalische Relevanz als Modell der Realität erhält das Ganze durch die Einführung einer Metrik und der der "Übersetzung" der Koordinaten in messbare Längen.

Dass sich das Universum ausdehnt, ist dabei nicht die Frage, die hier zu diskutieren ist.

@seeker: herzlichen Dank für deine sehr gut gewählten Hervorhebungen.