Zur Frage, was die Mathematik mit der „Realität“ zu tun haben könnte, möchte ich auch ein paar Gedanken besteuern.
Die Physik bedient sich zu einem wesentlichen Teil der Mathematik und mathematischer Modelle, um die Natur und ihre Prozesse möglichst genau und experimentell nachvollziehbar abzubilden. Die Tatsache, dass es den Physikern damit in beeindruckender Weise gelungen ist, viele Prozesse in der Natur zu verstehen, ja sogar vorherzusagen, zeigt für mich, dass die Mathematik auch etwas mit der Realität zu tun haben muss. Die Frage ist dann natürlich: Was könnten diese Gemeinsamkeiten sein und wie weit gehen sie? Was könnten wir daraus evtl. lernen?
Es liegt nahe, dass die Mathematik nur dann etwas mit der Realität gemeinsam haben kann, wenn auch die grundlegenden Fundamente der Mathematik bereits etwas mit der Realität zu tun haben. Es macht daher Sinn, sich zunächst mit diesen zu beschäftigen.
Ich möchte dabei kurz auf zwei dieser Fundamente eingehen.
1. Die mathematische Logik (später)
2. Die ZFC Axiome
Das eigentlich spannende an den ZFC Axiomen sind die Axiome, die sich mit Unendlichkeiten beschäftigen. Es gibt zwar auch noch einige wenige Vertreter einer rein endlichen Mathematik, aber die meisten bahnbrechenden und spannenden Aussagen der Mathematik sind ohne Unendlichkeiten nicht möglich. Daher haben die meisten Mathematiker mit der Akzeptanz von Unendlichkeiten an sich kein Problem. Es gibt allerdings ein paar Feinheiten und in dieser Hinsicht auch einige Aspekte, wo man durchaus geteilter Meinung sein kann, ob diese in der Natur realisiert sind oder nicht.
Betrachten wir dazu die drei zentralen Axiome von ZFC, die sich mit Unendlichkeiten befassen. Die genauen Definitionen kann man in Wikipedia nachlesen.
1. Das Unendlichkeitsaxiom
Wenn wir davon ausgehen, dass dieses Axiom, das insbesondere die Existenz der (unendlichen) Menge der natürlichen Zahlen beinhaltet, auch etwas mit der Realität zu tun hat, bedeutet dies zweierlei:
Zum einen: Es existiert überhaupt eine Menge. Das hört sich vielleicht etwas banal an, aber im Prinzip macht es in der Mathematik von vornherein alle Diskussionen überflüssig, ob etwas aus dem „Nichts“ entstehen kann. Die Mathematik setzt die Existenz von „Etwas“ einfach voraus. Manch einer könnte vielleicht argumentieren, dass die leere Menge, aus der sich dann weitere Mengen konstruieren lassen, ja mit dem Nichts vergleichbar wäre. Aber das ist nicht richtig. Die leere Menge ist nicht „nichts“, sondern ein „etwas", in diesem Fall eine Menge.
Zum anderen: Die zweite Aussage des Unendlichkeitsaxioms ist im Grunde genommen von fundamentaler Bedeutung sowohl für die Mathematik als auch, wenn wir es auf die Realität übertragen, für die Natur. Es postuliert die Existenz von abzählbar unendlich großen Mengen. Dies bedeutet in die Realität übertragen, dass es in der Natur aktual Unendlichkeiten gibt, die einen diskreten (abzählbaren) Charakter haben. Es existieren dann abzählbar unendlich viele verschiedene Elemente. Diese könnten wir auch als elementare Bausteine der Natur ansehen. Diese fundamentalen Bausteine der Natur, aus denen sich dann sowohl Licht und Materie als auch alle Kräfte ableiten lassen, kennen wir heute noch nicht. Wir kennen heute nur einige Ihrer Kondensate wie Elektronen, Photonen, Schwarze Löcher, etc. Auch das Wesen von Energie und Zeit kann man aus den Grundbausteinen ableiten und damit ergibt sich kanonisch auch ihre „Quantisierung“. Die Quantisierung der Energie ist eine zentrale Aussage der QM und bereits bekannt, auf die Quantisierung der Zeit kann ich hier nicht weiter eingehen. Wir haben diese fundamentalen Bausteine in der QM im Grunde genommen bereits direkt vor unserer Nase, interpretieren die mathematischen Modelle der QM aber zur Zeit in einer völlig anderen Art und Weise, die uns damit die Sicht auf diese Bausteine versperrt.
2. Das Potenzmengenaxiom
Dieses Axiom hat aus meiner Sicht ebenfalls zwei wichtige Bezugspunkte zur Realität. Zum einen besagt es, dass es in der Natur neben der diskreten und abzählbaren Unendlichkeit (s.o.) auch eine zweite aktual Unendlichkeit in Form eines Kontinuums gibt. Dies hat einen wesentlichen Bezug zu den reellen Zahlen und auf die Natur bezogen auf den Raum, in dem wir leben. Die zweite, ebenso wichtige Aussage des Axioms liegt m.E. darin begründet, dass dieses Kontinuum nicht für sich als vollständig eigenständiges „Etwas“ postuliert wird, sondern dass es sich indirekt aus einem Prozess oder einer Operation ergibt, nämlich mathematisch repräsentiert durch „Bilde die Potenzmenge einer gegebenen Menge“. Auf die Natur übertragen bedeutet das m.E., dass der Raum an sich ohne Inhalt nicht existiert, also keine Bühne ist, auf der sich die Prozesse abspielen, sondern dass der Raum aus einem unendlichen Prozess heraus erst gebildet wird und ohne eine „Grundmenge“ nicht existieren kann. Oder anders: Der Raum besteht aus einer abzählbar unendlichen Grundmenge plus einem daraus durch einen unendlichen Prozess entstehenden (dynamischen) „Kontinuum“, das man aber nicht mit dem R
3 verwechseln darf. Topologisch z.B. unterscheiden sich diese beiden Räume erheblich.
Einen leeren und statischen Raum gibt es also nicht. Mathematisch könnte man einen leeren Raum zwar mit dem R
3 abbilden, in der Natur gibt es aber kein wirkliches Pendant dazu. Aus praktischen Gründen ist es aber oft sehr nützlich, den realen Raum über ein R
3 Koordinatensystem zu adressieren. Wir können ein Gefühl für den Raum in der Natur bekommen, wenn wir uns die ART anschauen. Sie behandelt einen kleinen Teil dieser dynamischen Aspekte (nur für die Gravitation und nur für unser Universum). Der eigentliche Raum in der Natur ist aber noch wesentlich komplexer und dynamischer. Die physikalischen Eigenschaften und Formen eines endlichen Raumabschnittes sind dabei dynamisch insbesondere von seinem Inhalt (Art und Verteilungsstrukturen der Grundbausteine) und seiner Umgebung abhängig. Das gilt insbesondere auch für unser Universum. Die ART setzt im Grunde erst auf einem vorgelagerten Prozess (wir nennen es „Urknall“ und „Inflationsphase") auf, der unser Universum (endlicher spezieller Raumausschnitt) bereits räumlich (und damit auch inhaltlich) so gestaltet hat, dass damit erst die Voraussetzungen für die Gültigkeit der ART geschaffen wurden und sie dann bestimmte Aspekte des weiteren Verlaufs sehr gut abbilden kann. Die ART selber kann diesen vorgelagerten Prozess aber nicht beschreiben und auch nicht das finale Ende des Universums. Trotz aller Einschränkungen (auch was die Interpretation angeht) zeigt uns die ART aber den richtigen Weg, um den Raum einmal umfassend zu verstehen. Sie sagt uns, dass jeder endliche Raumabschnitt veränderlich ist, in Abhängigkeit seines (dynamischen) Inhalts und seiner Umgebung.
3. Das Auswahlaxiom
Dieses Axiom ist im Gegensatz zu den beiden anderen Axiomen durchaus nicht unumstritten. Zu Recht, wie ich meine. Der Grund dafür liegt zum einen darin begründet, dass dieses Axiom eine reine Existenzbehauptung beinhaltet und keinerlei Konstruktionsansätze enthält. Das wird allgemein als unschön empfunden. Zum anderen ergeben sich daraus zum Teil sehr merkwürdige Konsequenzen wie zum Beispiel das Banach-Tarski Theorem, die eigentlich jedem Physiker die Haare zu Berge stehen lassen sollten.
Für die Analysis und andere Bereiche reicht eine abgeschwächte Version des Auswahlaxioms bereits aus. Eine abgeschwächte Version ist notwendig, um viele wirklich fundamentale Ergebnisse der Mathematik beweisen zu können oder zu unterfüttern. Wenn man also den ganzen Reichtum der mathematischen Ergebnisse nutzen will, benötigt man zumindest eine abgespeckte Version des Auswahlaxioms in geeigneter Form. Die anderen Axiome reichen dafür nicht aus.
Wenn man das Auswahlaxiom als allgemein gültig ansieht, also für jede Art von Mengen, lassen sich Aussagen wie das Lemma von Zorn, das Banach-Tarski Theorem oder auch „Jeder Vektorraum hat eine Basis“ beweisen.
Rein aus mathematischer Sicht kann man das dann glauben oder nicht, je nachdem, in welcher Form man das Auswahlaxiom akzeptiert.
Wenn wir einmal davon ausgehen, dass die Fundamente der Natur sich in den Axiomen der Mathematik widerspiegeln müßten, stellt sich die Frage, ob die allgemeine Version des Auswahlaxioms in der Natur tatsächlich realisiert ist. Nur dann könnte ich die mathematischen Ergebnisse daraus auch in der Physik einsetzen, andernfalls würde es keine Physik mehr sein, sondern nur ein Gedankenspiel ohne Bezug zur Realität. Für mich ist allein schon das Banach-Tarski Theorem ein Grund dafür anzunehmen, dass die allgemein gültige Form des Auswahlaxioms nicht in der Natur realisiert ist. Auch die Maßtheorie liefert uns hier einige Argumente in diese Richtung, worauf ich aber nicht näher eingehen möchte.
Das Auswahlaxiom macht auch implizit Aussagen über die Beschaffenheit des Kontinuums, zumindest Aussagen über die Existenz von bestimmten Teilmengen der reellen Zahlen, die daraus abgeleitet werden können. Das hat auch sehr viel mit Problemen zu tun, mit denen die Maßtheorie (und damit auch Wahrscheinlichkeitstheorie) Jahrzehnte lang zu kämpfen hatte, bevor sie in der Lage war, die grundlegenden Axiome zur Maßtheorie konsistent formulieren zu können.
In dem Wikipedia Artikel zum Banach-Tarski Theorem werden einige dieser Aspekte angesprochen. Wer Lust hat, kann da ja mal reinschauen.
Rein mathematisch kann man im Grunde nicht entscheiden, ob das Auswahlaxiom in seiner allgemeinen Form nun „wahr“ ist oder nicht. Die Mathematik wäre hier ausnahmsweise mal auf Hilfe von „außen“ angewiesen. Und diese Hilfe könnte in diesem Fall die Physik zur Verfügung stellen, wenn Sie eine plausible Erklärung dafür liefern könnte, warum die allgemeine Form des Auswahlaxioms in der Natur wahrscheinlich nicht realisiert ist. Aber erst wenn wir den Raum und das Vakuum grundlegend physikalisch verstanden haben, kann diese Hilfe geleistet werden.
Fazit:
Während die Physik Impulse durch die beiden ersten Unendlichkeitsaxiome in Bezug auf die Existenz grundlegender Bausteine (Masse) und die Beschaffenheit von Raum, Energie und Zeit erhalten kann, wäre sie nach erfolgreicher Verarbeitung dieser Impulse in der Lage der Mathematik etwas zurückzugeben in Bezug auf die Gültigkeit des Auswahlaxioms.
Wir müssen meiner Meinung nach diese Unendlichkeiten wirklich ernst nehmen und sie auch als grundlegendes Konstruktionsprinzip der realen Natur begreifen. Sie werden dann nicht nur die Mathematik bereichern bzw. in großen Teilen als „naturrelevant" bestätigen, sondern auch unser physikalisches Verständnis, was die Natur „ist“, maßgeblich verbessern. Ich möchte nicht behaupten, dass wir die Natur dann ganz verstanden hätten. Das wäre vermessen, aber wir wären einen großen Schritt in dieser Richtung weiter.
Die Unendlichkeiten in der Natur sind allerdings nicht unendlich variantenreich bzw. beliebig. Die Natur ist nur so komplex wie zwingend notwendig. Was ist damit gemeint? In der Mathematik kann man die Unendlichkeiten immer mächtiger und komplexer denken. In der Natur ist dies nicht so. Der Natur reichen zwei Arten von Unendlichkeiten aus. Die abzählbar unendlichen für die Grundbausteine und das reelle Kontinuum für den Raum und die Bewegungen der Grundbausteine und deren Kondensate durch den Raum. Auch für die Abbildung der möglichen Zustände des „Alls“ reicht die Mächtigkeit des Kontinuums aus. Cantor hat einmal bewiesen, dass die Mächtigkeit von R
N gleich der Mächtigkeit von R ist, selbst wenn N abzählbar unendlich ist. Mehr brauchen wir nicht, um die Zustände abzubilden.
Cantor schreibt dazu in einem Brief an Dedekind:
Da sieht man, welch’ wunderbare Kraft in den gewöhnlichen reellen rationalen und irrationalen Zahlen doch liegt, dass man durch sie im Stande ist die Elemente einer ρ-fach ausgedehnten stetigen Mannigfaltigkeit eindeutig mit einer einzigen Koordinate zu bestimmen…
Mathematische Fragestellungen nach der Existenz und Struktur von immer mächtigeren Unendlichkeiten wären damit für die Natur nicht von Belang und ein reines Gedankenspiel. Es ist auch bemerkenswert, dass viele dieser Aussagen bzw. Hypothesen im Grunde mittels der bestehenden Axiome weder bewiesen noch widerlegt werden können. Aus mathematischer Sicht ist es sicher interessant, auch diese Aspekte zu untersuchen. Die Ergebnisse können aber nicht auf die Natur übertragen werden.
Aus dieser Sichtweise heraus könnte man die Axiome von ZFC etwas strenger formulieren, wenn man nur das Ziel hat, damit auch „naturverbunden“ zu sein.
Dies würde das Potenzmengenaxiom betreffen: Es würde reichen, dies auf die Menge der natürlichen Zahlen zu beschränken, um die Existenz eines Kontinuums und seine Konstruktion sicherzustellen.
Statt des Auswahlaxioms könnte man das Axiom der Determiniertheit nehmen, das Theoreme wie Banach-Tarski nicht zulässt, trotzdem aber all die schönen Ergebnisse der Mathematik erlaubt, auf die sich maßgeblich auch die Physik bezieht.
Aus dem Axiom der Determiniertheit folgen u.a. folgende wichtige Aussagen:
- Die einfache Kontinuumshypothese ist wahr
- Jede Teilmenge der reellen Zahlen ist Lebesgue-messbar
- Die reellen Zahlen können nicht wohlgeordnet werden
- Das abzählbare Auswahlaxiom ist wahr
Die dann vorliegende „ZFD“ würde dann im Grunde nur „gute“ Mengen zulassen und „schlechte“ wie beim Banach-Tarski Theorem verhindern.
Die heutigen Axiome der Mathematik in Form von ZFC haben bereits jetzt sehr viel mit der Natur gemeinsam. Einzig das Auswahlaxiom ist mit großer Vorsicht zu genießen und sollte daher durch etwas „naturverbundenes“ ersetzt werden.