Doch, das ist genau der Punkt. Es geht Heidegger auch gar nicht um den Erkenntnissprozess, sondern um die Seinsweise des Katheders für uns.
Es geht darum, dass der Katheder für uns als Katheder existiert, wir ihn so sehen und gebrauchen. Wir sehen ihn nicht als Ansammlung brauner Flächen, sondern als Katheder. Übertragen auf die Uni bedeutet dies, dass wir nicht die Mensa, die Seminarräume und die Bibliothek gebrauchen, sondern dass wir studieren. Es geht um unsere Perspektive zu den Gegenständen, die wir einnehmen, wenn wir studieren.
Natürlich kann man das Studium in einzelne Handlungen herunterbrechen, aber man wird dem Sein des Studiums für uns nicht gerecht, d.h. man muss zweimal Mühe und Aufwand investieren, einmal wenn man das Studium als diese Ansammlung von Handlungen beschreibt, und zum zweiten wenn man die Erfahrung des Studiums aus diesen Handlungen wieder rekonstruiert. In der Praxis tut man dies nicht, man studiert. Natürlich trifft diese Seinsweise der Uni nur auf jemanden zu, der studiert hat.
Übertragen auf die Mathematik resultiert die Seinsweise der Mathematik für uns essentiel mittels der Praxis der Mathematik.[/quote] Mathematik in Summe ist demnach ein Bündel von abstrakten Objekten und deren Beziehungen sowie der tatsächlichen Praxis = der Tätigkeit des Mathematikers.
Nun kann man - gegen Heidegger - dieses Bündel in einzelne Entitäten auflösen. Tut dies - wieder aus der Sichtweise der mathematischen Praxis - dann identifiziert man den Gegenstand der mathematischen Praxis, die eigentlichen Objekte der Mathematik. Im Gegensatz zu Heidegger sind die meisten Mathematiker jedoch nicht der Meinung, dass sich mit diesem Schritt die Mathematik auflöst bzw. verschwindet, so wie der Katheder und die Uni in ihrer eigentlichen Seinsweise für uns verschwinden, wenn wir aufhören, Vorlesungen am Katheder zu halten oder an der Uni zu studieren. Im Gegenteil, die Mathematiker identifizieren diesen Gegenstand als die “eigentliche Mathematik”, räumlich und zeitlich losgelöst von Büchern, Tafeln und Computern, autonom ggü. der Materie und der konkreten Tätigkeit des Rechnens und Beweisens. Und sie identifizieren dies als eine abstrakte Struktur von Objekten und Relationen.
Während nach Heidegger das Wesen des Katheders zwar in gewissen Grenzen autonom ggü. der Materie ist - letztere ist für ihn untergeordnet - ist das Wesen der Mathematik zudem autonom ggü. unserer Praxis, Mathematik zu betreiben.
Mir ist natürlich klar, dass dies nur eine subjektive Sichtweise ist. Sie wird jedoch von den meisten Mathematikern geteilt, in dem Sinne, dass der Gegenstand der Mathematik unabhängig von einer Konstruktion oder Beschäftigung mit Mathematik existiert.
Auf was ich noch hinweisen möchte sind zwei Ebenen der Argumentation: Zum ersten die Motivation der Tatsache, dass abstrakte Begriffe zumindest für uns eine eigenständige Seinsweise ggü. den sie konstituierenden Einzeldingen haben - zumindest und insbs. in unserem praktischen Gebrauch; in diesem Sinne sind es letztlich nicht nur abstrakte Begriffe. Zum zweiten die Motivation der objektiven und autonomen Seinsweise der mathematischen Strukturen.
Den letzten Schritt gehen Brouwer und die Intuititionisten sowie Konstruktivisten sicher nicht mit.