gradient hat geschrieben:Jetzt nochmal zur Frage der Kategorisierung von schwer falsifizierbaren Theorien: Ist die Theorie zur Hawking-Strahlung noch Physik? Oder doch eher Mathematik? Oder gar Philosophie, Metaphysik, Religion,...? Die Hawking-Strahlung ist unter den Fachleuten quasi unumstritten, aber immer noch nicht experimentell bestätigt. Und es ist m. W. n. überhaupt nicht klar, ob dies in absehbarer Zeit gelingen kann.
Worauf ich hinaus möchte: Ich finde es eigenartig, zwei (beliebige) verschiedene Theorien A und B, die auf sehr ähnlichen Methoden basieren (z. B. Methoden der QFT), aber unterschiedliche Vorhersagen machen - die von A sind heute schon falsifizierbar, die von B allerdings in 20 Jahren noch nicht - in verschiedene Kategorien stecken möchte.
MfG
Wenn wir Kategorien bilden, dann tun wir das um Ordnung zu schaffen, um die Dinge einander besser zuordnen und miteinander vergleichen zu können.
Dies geschieht per gesellschaftlicher
Konvention und der Erfolg von Konventionen wird i.d.R. daran gemessen wie gut sie sich bewähren.
Man muss aber bedenken, dass das unsere
gedankliche Einordnungen sind.
An sich gibt es gar keine scharfen Trennlinien "Dies hier gehört in Kategorie A und das hier in B". Tatsächlich gibt es nur Graustufen und verschiedene wählbare Perspektiven: "Das hier ähnelt noch etwas mehr dem, was wir uns unter Kategoorie A vorstellen und dies hier eher B.".
Das vorweg.
Wenn wir wissenschaftliche Theorien betrachten, dann kann man diese auch in verschiedene Kategorien einteilen, z.B. nach ihrem Gegenstand aber auch nach dem, wie stark wir ihnen
vertrauen können/wollen, als wie bewährt und abgesichert wir sie betrachten wollen.
Hier wurde von uns (auch per Konvention) beschlossen, dass nicht alles dasselbe Vertrauen genießen soll.
In der Naurwissenschaft ist es so:
1. Das höchste Maß an Vertrauen genießen direkte, (zumindest prinzipiell) von jedermann, zu jeder Zeit und an jedem Ort wiederholbare Beobachtungen.
Besonders aussagekräftig sind diese Beobachtungen dann für uns, wenn man sie exakt erfassen kann, wenn man also Messwerte generieren kann, die auch Sinnestäuschungen ausschließen sollen.
Direkt darunter (in unserem Vertrauen) stehen Beobachtungen, die indirekt auf etwas hinweisen: Das, was direkt beobachtet wird, genießt das höchste Vertrauen, das worauf es indirekt hinweist, genießt hohes Vertrauen, besonders dann, wenn mehrere, unabhängige Beobachtungen indirekt auf dasselbe hinweisen.
2. Erst danach (im Maß unseres Vertrauens) kommen logische Schlussfolgerungen, Modellbildungen, Theoriebildungen. Dazu gehört auch die mathematische Beschreibung: Wir vertrauen dem nur dann, wenn es nicht im Widerspruch zu 1. steht.
Das ist deshalb so, weil Naturwissenschaften per Definition
empirische Wissenschaften sind.
Es ist auch deshalb so, weil uns auch Schlussfolgerungen täuschen können, bzw. in eine Richtung führen können, die die wahre Welt/die wahren Verhältnisse nicht treffen, ganz besonders wenn mehrere Möglichkleiten der Schlussfolgerung bestehen - und das ist im Grunde immer gegeben, weil man nie sicher sein kann schon alle Schlussfolgerungen erfasst/berücksichtigt/gefunden und verglichen zu haben, die überhaupt möglich sind.
Nicht-Naturwissenschaften wie die Philosophie, Logik, Mathematik, usw. kommen (zumindest im Kernbereich, also im nicht-angewandten-Bereich) auch ohne 1. aus.
Sie können sich mit 2. begnügen, eben weil sie in dem Bereich keine Übereinstimmung zur beobachtbaren Welt nachweisen müssen, es reicht die logische Konsistenz.
Schlussfolgerung:
Ein beliebiges Gegenstandsgebiet einer Naturwissenschaft genießt ein umso höheres Vertrauen, je abgesicherter und bewährter es durch empirische Befunde ist.
Deshalb genießen auch die Hawkingstrahlung, SL, ST, DM, DE usw. ein geringeres Vertrauen als z.B. das Gravitationsgesetz, wenn es auf beobachtbare Bereiche angewandt wird, z.B. auf das von jedermann nachprüfbare Fallen von Gegenständen auf der Erde.
Bzw. muss man das ein wenig aufdröseln: Die ST genießt das höchste Vertrauen, da, wo sie sich auf die beobachtbare, empirisch überprüfbare Welt bezieht und damit in Übereinstimmung ist; da, wo sie sich nicht darauf bezieht, genießt sie nur ein eingeschränkteres Vertrauen.
D.h.: Theorien durchlaufen eine Evolution des Vertrauens. Zunächst hast du nur eine Idee, die kann gut oder schlecht, zielführend oder in die Irre führend sein: Die Idee genießt zunächst nur ein geringes Vertrauen.
Dann bildest du ein Modell daraus und überprüfst es durch Beobachtungen. Gleichzeitig wird versucht das Modell zu belegen und zu widerlegen, durch Beobachtungen und durch Untersuchungen auf logische Konsistenz, etc. Überlebt das Modell dies für längere Zeit, so steigt unser Vertrauen in dieses Modell, es wird dadurch stetig
bewährter.
D.h.:
gradient hat geschrieben:... die von A sind heute schon falsifizierbar, die von B allerdings in 20 Jahren noch nicht - in verschiedene Kategorien stecken möchte.
... in dem Fall ist A in seiner Evolution schon weiter und genießt daher derzeit ein höheres Vertrauen.
B kann nachziehen, A sogar überholen, muss aber nicht, das ist
ungewiss. Das muss sich erst noch herausstellen. Viele Modelle müssen auf diesem evolutionären Weg auch aufgegeben/aussortiert werden.
Ob dieser Unterschied (=Graustufe) nun schon ausreicht um A und B
heute verschiedenen Kategorien (=schwarz/weiß) zuzuordnen ist wie gesagt eine Frage der Konvention und muss ständig diskutiert werden, gerade in unserer heutigen Welt, die sich rasant weiterentwickelt. Es ist auch eine Frage danach, wie fein man diese Schubladen unterteilen möchte: Wenn ich beschließe fein zu unterteilen, dann sage ich: "Ja! Das sind verschiedene Kategorien.", wenn nicht, nicht.
Unabhängig von der Kategorisierung besteht aber in jedem Fall ein Unterschied - das sollte man im Auge behalten!
Grüße
seeker