seeker hat geschrieben:OK, einverstanden.
Mich würde aber immer noch sehr interessieren, ob es aus Sicht des mathematischen Szenarios überhaupt möglich ist aus N zufällig eine Zahl zu wählen?
Ist das mathematisch zu rechtfertigen? Falls ja, unter welchen Voraussetzungen? Oder bleibt diese Frage einfach unentscheidbar?
Vielleicht hilft es weiter, wenn wir das Gedankenexperiment (mit der Urne und den Kugeln darin) transformieren?
Ich biete ein verändertes, aber -wie ich glaube- äquivalentes Szenario an:
Ich nehme einen Würfel mit unendlich vielen Seiten und würfle.
So ein Objekt ist eine Kugel.
D.h.: Ich zeichne auf der Oberfläche einer Kugel unendlich viele Punkte ein und bezeichne diese so, dass ich alle Zahlen von N nacheinander einzeichnen kann, bei der 1 angefangen.
Nun würfle ich indem ich die Kugel unbesehen kompliziert schüttle und dann fallen lasse und schaue nach dem Wurf nach, welche Zahl exakt oben zum Liegen kommt.
Diese Zahl soll mein Würfelergebnis sein.
Wenn wir uns darauf einigen, dass eine exakte Kugel auf einer exakt flachen Ebene irgendwann zum Stehen kommt, dann muss nach dem Wurf eine Zahl oben liegen: Sie existiert also!
Wo es schwieriger zu werden scheint: Kann ich diesen Punkt mit dieser Zahl überhaupt identifizieren, wenn er doch in beliebig kleinen Abständen von anderen Punkten umgeben ist? Muss ich vielleicht meine Punkte in einem speziellen Muster nummerieren? Oder hilft alles nichts und ich kann die Zahl ganz oben nicht eindeutig bestimmen?
Grüße
seeker
Hallo Seeker,
Dein Problem wird sich glaube ich auflösen, wenn wir uns noch mal genau anschauen, was denn die genauen Rahmenbedingungen sind, die die Mathematik vorgibt, um mit Wahrscheinlichkeiten zu arbeiten. Der Thread zeigt, dass solche axiomatischen Bedingungen notwendig sind, um von vorne herein evtl. auftretende Widersprüche und Inkonsistenzen auszuschließen.
Die Grundlage von allem ist immer ein Wahrscheinlichkeitsraum. Dieser besteht aus drei Teilen:
1. Einer beliebigen Ergebnismenge O (Omega)
2. Einer Ereignismenge S (Sigma)
3. Einem Wahrscheinlichkeitsmaß P, dass jeder Menge aus S !!! eine Zahl zwischen 0 und 1 zuordnet.
Weiter gelten noch folgende einschränkenden Bedingungen, die entscheidend sind:
S ist eine Teilmenge der Potenzmenge von O mit folgenden Bedingungen:
a) S enthält O
b) Mit jeder Menge M ist auch die Komplementärmenge bzgl. O enthalten
c) Jede abzählbare Vereinigung von Mengen aus S ist in S enthalten
S bildet mit diesen Eigenschaften eine Sigma-Algebra. In der Wahrscheinlichkeitstheorie nennt man die Mengen von S oft Ereignisse, in der Maßtheorie "messbare" Mengen. Den Ausdruck finde ich persönlich besser, weil er klar macht, dass nicht alle Teilmengen von O immer messbar sein müssen und damit in S nicht auftauchen würden.
Das Wahrscheinlichkeitsmaß P muss folgende Bedingungen erfüllen:
d) P(0) = 0 (o = leere Menge)
e) P(O) = 1
f) P(A1 U A2 U ...) = P(A1) + P(A2) + ... für paarweise disjunkte Mengen Ai aus S.
Wenn wir einen Würfel als Beispiel nehmen, sieht der W-Raum folgendermaßen aus:
O = 1,2,3,4,5,6 : Die Ergebnisse sind die jeweiligen Augenzahlen eines Wurfes
S = Potenzmenge von O (Jede Potenzmenge ist automatisch eine Sigma-Algebra)
Damit enthält S auch die Ergebnisse (1) (2) (3) (4) (5) (6) als Ereignisse. In endlichen Wahrscheinlichkeitsräumen ist dies der normale Setup.
P((1)) = ...... = P((6)) = 1/6 (Gleichverteilung)
Zu S gehört dann auch das Ereignis (2,4,6). Diese Menge repräsentiert dann zum Beispiel das Ereignis, das eine gerade Zahl geworfen wurde.
Die Wahrscheinlichkeit berechnet sich dann ganz einfach nach f): P ((2,4,6) = P((2) U (4) U (6)) = P((2) + P((4)) + P((6)) = 1/2
Bei endlichen W-Räumen ist damit eigentlich immer alles klar und entspricht auch der Intuition.
Sobald aber Unendlichkeiten auftreten, muss man aufpassen. Bei diskreten W-Räumen mit abzählbar vielen Elementen kann man in der Regel genauso verfahren, wie oben mit dem Würfel, wenn man für P ein geeignetes Mass kennt. Zum Beispiel ein gegen 1 konvergierende Reihe. Dann ergibt sich die Wahrscheinlichkeit von jedem Ereignis aus S einfach durch die Summe der Einzelereignisse wie oben.
Wenn wir nun Deinen Fall oben betrachten, können wir kein W-Maß auf den Einzelereignissen definieren unter der Bedingung einer Gleichverteilung. Denn entweder die Voraussetzungen d oder e werden verletzt.
Daher und das ist sehr wichtig zu verstehen, sieht der W-Raum für den Fall, dass Du keine Verteilung kennst wie folgt aus:
O = Menge der natürlichen Zahlen
S = Leere Menge und O
P: P(o) = 0 P(O) = 1.
Dies bedeutet, dass ich nur zwei Aussagen machen kann:
1. Die Wahrscheinlichkeit, keine Zahl zu ziehen ist 0
2. Die Wahrscheinlichkeit, irgendeine Zahl zu ziehen ist 1.
Das ist alles, was ich über die Wahrscheinlichkeiten sagen kann.
Das Ganze wird durch Deine Erweiterung des Beispiels, dass die Kugel eine Delle hat und damit zum Beispiel die Zahl 3 in 10% aller Fälle als Ergebnis kommt, noch wesentlich klarer.
Der W-Raum hierfür würde wie folgt aussehen:
O = Menge der natürlichen Zahlen
S = Leere Menge o und O, sowie (3) und O-(3) (Komplementärmenge)
P: P(o) = 0 P(O) = 1 P((3) = 1/10 P(O-(3)) = 9/10
Dies bedeutet, ich kann über zwei zusätzliche Ereignisse etwas aussagen: Die Wahrscheinlichkeit, eine 3 zu ziehen ist 1/10. Die Wahrscheinlichkeit, irgendeine andere Zahl zu ziehen ist 9/10. Mehr geht aber auch nicht.
Bei unendlichen Würfen zum Beispiel, gibt es noch ein paar weitere Dinge, die man beachten muss. Wenn gewünscht, kann ich hierzu auch noch ein Beispiel machen.