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Re: Zur Fragwürdigkeit moderner Mathematik

Verfasst: 25. Dez 2016, 17:03
von Skeltek
nachdenkens-wert für wen? Kenne Wittgenstein nicht, aber ganz nett, solche Schlussfolgerungen von jemand anderem zu hören. Frage mich eher, ob der mir etwas bieten kann, über das ich selbst noch nie nachgedacht habe...
tomS hat geschrieben:
Skeltek hat geschrieben:Man kann ja durchaus als Axiom einführen, dass das aktual unendliche existiert... aber was bringt es, wenn auf die in dem Konstrukt angewendeten Verfahren und Operationen ausschließlich das potentiel unendliche wie z.B. bei Limesbetrachtungen verwenden?
Man kommt tatsächlich in weiten Bereichen mit dem potentiell Unendlichen zurecht.
Womit du mir zwar recht gibst, dass höchstens das was man mit potentiel unendlich meint existiert - auch wenn diese Wortschöpfung ziemlich grausig ist.
tomS hat geschrieben:
Skeltek hat geschrieben:Klar kann man z.B. sagen, eine Ziffernfolge ist unendlich lang, trotzdem existiert die Folge nicht als Ganzes.
Warum nicht?
Die Antwort stand doch direkt unter dem was du zitiert hast?
tomS hat geschrieben: Betrachten wir eine endliche, zwei-dimensionale Fläche. Würdest du behaupten, dass sie nicht existiert? Oder dass sie als Grenzprozess endlich vieler, null-dimensionaler Punkte aufgefasst werden sollte? Das funktioniert prinzipiell nicht.
Nein, wieso sollte ich das tun?
Die Fläche ist eben nicht die Summe der darin befindlichen Punkte (Im übrigen kann man Punkte ohnehin nicht addieren). Keine Menge an Punkten kann eine Fläche aufspannen (das macht hier eher die Metrik).
Ich versuche hier lediglich zu widersprechen, dass {1} in [0,1[ enthalten sein soll. Da interessiert dann wirklich nur sekundär, aus wievielen Punkten [0,1[ besteht.
Wieso sollte ich also behaupten, dass [0,1[ nicht existiert, nur weil es deiner Ansicht nach aus Punkten bestehen soll?

Re: Zur Fragwürdigkeit moderner Mathematik

Verfasst: 25. Dez 2016, 20:09
von tomS
Skeltek hat geschrieben:
tomS hat geschrieben:Man kommt tatsächlich in weiten Bereichen mit dem potentiell Unendlichen zurecht.
Womit du mir zwar recht gibst, dass höchstens das was man mit potentiel unendlich meint existiert ...
Womit ich dir in Teilbereichen rechtgebe, bei denen ich von zurechtkommen, nicht von existieren gesprochen habe. Also - nein.
Skeltek hat geschrieben:Wieso sollte ich also behaupten, dass [0,1[ nicht existiert, nur weil es deiner Ansicht nach aus Punkten bestehen soll?
Jede reelle Zahl x mit 0 < x < 1 ist im Intervall [0,1[ enthalten. Damit sind überabzählbar viele Punkte oder Zahlen x in diesem Intervall enthalten. Wenn also das Intervall [0,1[ als Ganzes existiert, dann doch auch die in ihm enthaltenen Punkte oder Zahlen, also überabzählbar viele.

Re: Zur Fragwürdigkeit moderner Mathematik

Verfasst: 25. Dez 2016, 20:53
von Frank

Re: Zur Fragwürdigkeit moderner Mathematik

Verfasst: 26. Dez 2016, 14:50
von Skeltek
Okay, dann sind wir uns ja im ersten Punkt schonmal fast einig. Ich kenne leider nur keine deduktive Herleitung oder Verwendung von "aktual unendlich".
tomS hat geschrieben:
Skeltek hat geschrieben:Wieso sollte ich also behaupten, dass [0,1[ nicht existiert, nur weil es deiner Ansicht nach aus Punkten bestehen soll?
Jede reelle Zahl x mit 0 < x < 1 ist im Intervall [0,1[ enthalten. Damit sind überabzählbar viele Punkte oder Zahlen x in diesem Intervall enthalten. Wenn also das Intervall [0,1[ als Ganzes existiert, dann doch auch die in ihm enthaltenen Punkte oder Zahlen, also überabzählbar viele.
Okay, moment... das mag jetzt spitzfindig klingen, aber ich hatte das Intervall gewählt um einen ganz bestimmten geometrischen bzw relationalen Zusammenhang aufzuzeigen zwischen links und rechts von dem was das Interval vom Punkt trennt.
Es ist schwer das Thema Menge zu behandeln ohne dass ständig irgendjemand auf Terminologie und Verständnis von Körpern zurückgreift (mache ich ja auch, wenn es sonst zu schwer wird zu erklären).
Wikipedia hat geschrieben: In Bolzanos Manuskripten aus den Jahren zwischen 1830 und 1848 heißt es: „Inbegriffe nun, bey welchen auf die Art, wie ihre Theile mit einander verbunden sind, gar nicht geachtet werden soll, an denen somit Alles, was wir an ihnen unterscheiden, bestimmt ist, sobald nur ihre Theile [selbst] bestimmt sind, verdienen es eben um dieser Beschaffenheit willen, mit einem eigenen Nahmen bezeichnet zu werden. In Ermangelung eines andern tauglichen Wortes erlaube ich mir das Wort Menge zu diesem Zwecke zu brauchen;“
Was da mit Menge, überabzählbar, unendlich usw beschrieben wird geht über den Mengenbegriff deutlich hinaus.
Diese Begriffe machen erst Sinn, wenn man auf dieser Menge eine Metrik und weiteres definiert hat um die zunächst identitätslosen ununterscheidbaren Elemente funktional unterscheidbar zu machen und ihnen dann eine Semantik innerhalb der Struktur zu geben, welche wir axiomatisch in den Kuchen hinein fräsen.
Die Begriffe der Überabzälbarkeit usw existieren ja in Mengen so erstmal, überhaupt nicht.

Punkt und Strecke sind ja zunächst einmal auch etwas völlig unterschiedliches. Punkte sind keine Elemente der Linie Strecke, sie befinden sich nur darin.
Nun müssten wir anfangen genau festzulegen, inwiefern sich Zahlen, Ziffernfolgen und der Wert den diese symbolisieren bzw haben genau unterscheiden; aber ich denke wir wissen beide, dass das die Diskussion hier zum erbrechen erliegen bringen würde.

Nur noch zuletzt eine Frage zu deiner Ansicht:
Denkst du mit "aktual unendlich" ist eine Anzahl, ein Wert oder eine Größe gemeint?
Ist es das Element ganz rechts in IR, ist es die Anzahl der Elemente in IR, ist es der Abstand vom ersten bis zum letzten Element oder sonstwas?
Ich kann mir beim besten Willen nichts vernünftiges darunter vorstellen, was nicht zu Widersprüchen führt.
Es ist nicht so, dass ich Fragen dazu nicht verstehen oder beantworten könnte sondern eher so, dass ich so geartete Fragen mit einem "aktual unendlich" bereits für sinnlos oder semantisch widersprüchlich halte, sobald ich anfange darüber nachzudenken.

Schuld an dem Ganzen ist vielleicht ein wenig Cantor mit seiner Mengenlehre. Er benutzte Begriffe wie "Menge der reelen Zahlen" und verleitet Leser dazu, die Menge, die dem Körper zugrunde liegt mit dem Körper selbst gleichzusetzen. Zumal er ja Anfangs auch von dem Gebrauch des Wortes Menge dafür zurückschreckte, sich aber später für die Verwendung dieses Wortes entschied (denke er wollte weder sich noch den Leser mit ständigen Umschreibungen irritieren, zumal zumindest damals klar zu sein schien, was mit Menge eigentlich gemeint war).

Ich meine.... ohne ZFC lässt sich noch nicht einmal sagen, ob über einer Menge eine Wohlordnung existiert oder nicht. Von Überabzählbarkeit oder ähnlichen braucht man da erst gar nicht anfangen; die sind nicht Teil der Menge sonder des Körpers über dieser Menge.

Re: Zur Fragwürdigkeit moderner Mathematik

Verfasst: 26. Dez 2016, 18:40
von tomS
Mal ganz langsam; der Punkt [x,x] ist eine Teilmenge aus [0,1], wenn 0 < x < 1.

Und man kann m.E. die Überabzählbarkeit von der reellen Zahlen beweisen, ohne direkt auf ZFC zurückgreifen zu müssen. Das Cantorsche Diagonalelement leistet dies, in dem es zunächst nicht-konstruktiv zeigt, dass zumindest die Identifizierung (= Abzählung) der reellen Zahlen scheitert.

Man hat also noch gar keinen konkreten Begriff von Überabzählbarkeit, weiß jedoch bereits, dass Abzählbarkeit nicht ausreichend ist.

Re: Zur Fragwürdigkeit moderner Mathematik

Verfasst: 26. Dez 2016, 19:48
von tomS
Das ist aber alles nicht der Punkt. Im Kern geht es darum, dass viele (nicht alle) Mathematiker einen sehr formalen Zugang zur Mathematik pflegen und die Existenz derartiger Mengen und deren Mächtigkeiten innerhalb ihres formalen Rahmens annehmen. Das ist nicht zwingend, man kann Gegenpositionen einnehmen, und man kann für die praktische Anwendung der Mathematik häufig auf derartige Konstrukte verzichten.

Ich habe selbst theoretische Physik (Diplom) und Mathematik als Nebenfach mit Nebenfachprüfung studiert und einige. Dann habe ich mich im Rahmen meiner Arbeit (Quantenfeldtheorie) jahrelang mit Elementen der Funktionalanalysis, insbs. unendlich-dimensionalen Vektorräumen befasst. M.W.n. waren alle Beweise letztlich epsilon-delta-Beweise sowie Grenzwertbetrachtungen, d.h. sie verzichteten auf das aktual-Unendliche.

Ich kann mich an drei Fälle erinnern, für das Auswahlaxiom bzw. das Zornsche Lemma benötigt wurde, nämlich
i) für den Existenzbeweis von (überabzählbaren) Hammelbasen, die es erlauben, beliebige Vektoren in unendlich-dimensionalen Vektorräumen als endliche Linearkombinationen der Basisvektoren darzustellen (dazu kann man ein Beispiel mittels Fourierreihen konstruieren)
ii) für den Satz von Tychonoff
iii) der Satz von Hahn-Banach

Wer also ein Problem diesem "abgefahrenen" Zweig der Mathematik hat, der hat zunächst mein vollstes Verständnis. Aber er/sie sollte zulassen, dass es Mathematiker gibt, die sich sehr intensiv und präzise damit befassen; man sollte nicht von den eigenen Limitierungen auf die andere schließen.

Re: Zur Fragwürdigkeit moderner Mathematik

Verfasst: 28. Dez 2016, 03:14
von Skeltek
tomS hat geschrieben: M.W.n. waren alle Beweise letztlich epsilon-delta-Beweise sowie Grenzwertbetrachtungen, d.h. sie verzichteten auf das aktual-Unendliche.
Ja, das meine ich ja damit. Da sind wir uns ja einig.
tomS hat geschrieben: Ich kann mich an drei Fälle erinnern, für das Auswahlaxiom bzw. das Zornsche Lemma benötigt wurde, nämlich
i) für den Existenzbeweis von (überabzählbaren) Hammelbasen, die es erlauben, beliebige Vektoren in unendlich-dimensionalen Vektorräumen als endliche Linearkombinationen der Basisvektoren darzustellen (dazu kann man ein Beispiel mittels Fourierreihen konstruieren)
ii) für den Satz von Tychonoff
iii) der Satz von Hahn-Banach
Werde mir die drei noch einmal näher ansehen.
i) Soweit ich weiss ist das notwendig, da die beliebigen Vektoren des abzählbar unendlichdimensionalen Raumes nicht als endliche LK einer abzählbaren Basis gebildet werden können.
Um das zu ermöglichen erweitert man die abzähbar unendliche Basis auf überabzählbar.
Vermute worum es in dem Beweis ging, den du nennst ist eher, ob es eine überabzählbare Basis gibt deren Vektoren linear unabhängig sind.
Das Auswahlaxiom benötigt man hier zwar, aber nur, weil die Vektoren der überabzählbaren Basis nicht konstruiert werden können.
Vielleicht hab ich das aber auch falsch in Erinnerung.
ii) hab ich gerade nicht im Kopf
iii) siehe ii)
tomS hat geschrieben: Wer also ein Problem diesem "abgefahrenen" Zweig der Mathematik hat, der hat zunächst mein vollstes Verständnis. Aber er/sie sollte zulassen, dass es Mathematiker gibt, die sich sehr intensiv und präzise damit befassen; man sollte nicht von den eigenen Limitierungen auf die andere schließen.
Glaube nicht, dass meine "Limitierungen" hier bereits greifen.
Natrlich kann man damit Mathematik betreiben, tue ich ja auch. Es ist meist nur nicht notwendig, vereinfacht vieles aber erstmal den allgemeinen Fall zu betrachten bevor man sich auf die konstruierbaren Mengen als untergeordnetes Problem stürzt. Mich stört nur der "Existenzbegriff".
Aktual unendlich ist meiner Meinung nach nicht in IR enthalten. Dass man damit nicht hantieren kann oder soll hab ich jetzt so auch nicht sagen wollen.

Re: Zur Fragwürdigkeit moderner Mathematik

Verfasst: 28. Dez 2016, 22:42
von tomS
(i) hast du richtig verstanden